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15.03.2018 von Ralph Hug

Streiken lohnt sich fast immer

Die Schweiz gilt als streikarm. Doch seit der Jahrtausendwende nehmen die Arbeitskämpfe wieder deutlich zu. Und zwar nicht nur auf dem Bau und in der Industrie, sondern quer durch alle Branchen hindurch.

Artikel in Thema Mut
Plötzlich gab es weder Gipfeli noch Cola. Die Kundschaft stand vor verschlossener Tür. Statt Werbung für Günstigangebote war auf dem Transparent zu lesen: «Spar spart auf Kosten des Personals und bricht das Gesetz». 21 Angestellte des Detailhändlers, fast alles teilzeitbeschäftigte Frauen, waren im April 2009 im Supermarkt der Autobahntankstelle Heimberg bei Thun in den Streik getreten. Zwei Tage später sassen vier der streikenden Frauen sowie eine Delegation der Gewerkschaft Unia in Zürich in der Spar-Zentrale. Nachts, nach stundenlangen Verhandlungen, lenkte das Management ein. Eine Vereinbarung sah vor, dass die Anzahl der Mitarbeitenden erhöht, die Überstunden mit Zuschlag abgebaut und die Löhne angehoben werden.
Damit hatten die Spar-Frauen Geschichte geschrieben. Noch nie hatten Detailhandelsangestellte so lange gestreikt. Der Arbeitskampf von Heimberg war ein Warnsignal an eine Branche, die traditionell von tiefen Löhnen lebt. Allseits wurde der Mut der Streikenden bewundert. Sie hatten sich selbst durch massive Kündigungsdrohungen nicht beirren lassen. Als ihnen die Spar-Leitung am zweiten Streiktag Securitas-Wächter ins Haus schickte, die den Supermarkt öffnen sollten, gelang es ihnen, diese von der Berechtigung ihrer Aktion zu überzeugen. «Wir haben uns nicht einschüchtern lassen», sagte Kathrin Huber, eine der streikenden Frauen.

Klagen und Entlassungen als Druckmittel

Doch nicht jeder Streik führt zu Erfolg. Dies zeigte vier Jahre später das Beispiel Dättwil im Kanton Aargau. Wieder Spar, wieder schlecht entlöhnte Frauen, zu wenig Personal, zu viele Überstunden und leere Versprechungen. Zehn Frauen hatten die Nase voll und verweigerten im Juni 2013 die Arbeit. Auch sie waren entschlossen, die Zumutungen der Manager nicht länger hinzunehmen. «Um den Kopf frei zu haben, brachte ich vorher meine beiden Kinder zur Schwiegermutter nach Montenegro», erzählte Snezana Maksimovic später den Medien. So bestimmt die Streikenden, so bestimmt reagierte jetzt aber auch die Spar-Leitung. Diesen Kampf wollte sie nicht mehr verlieren.
Der Streik zog sich hin. Tagelang und nervenaufreibend sowohl für die Betroffenen als auch für die Gewerkschaft Unia, die sie unterstützte. Die Spar-Chefs hatten Anwälte und PR-Leute mobilisiert. Es folgten Nötigungsklagen und fristlose Entlassungen, man spielte auf Zeit und Zermürbung. Die Unia ihrerseits reagierte mit Gegenklagen. Nach elf Tagen brachen die Frauen den Streik ab, nachdem das Badener Bezirksgericht die Räumung des Geländes angeordnet hatte. Eine weitere Konfrontation hatte unter solchen Umständen keinen Sinn. Alle Streikenden verloren ihre Stelle, auch Snezana Maksimovic, die zehn Jahre lang bei Spar gearbeitet hatte. Doch sie fand einen neuen Job und bereut den Kampf nicht: «Wir hatten keine andere Wahl.» Von Kolleginnen erfuhr sie, dass Spar später die Stellenpläne angepasst habe. Wenigstens eine nachträgliche Genugtuung.

Trendwende im Jahr 2000

Konsultiert man internationale Vergleiche, fällt die Schweiz stets durch die geringe Streikhäufigkeit auf. Dies belegt auch eine neue Statistik des Politikwissenschaftlers und Streikexperten Heiner Dribbusch von der arbeitnehmernahen Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. Dribbusch hat unter Rückgriff auf nationale Statistiken, aber auch auf eigene Daten die Streiks in Europa untersucht. Danach belegt die Schweiz bei den arbeitskampfbedingten Ausfalltagen in den Jahren 2006 bis 2015 den drittletzten Platz. Hinter ihr rangieren nur noch die Slowakei und Lettland. Die vordersten Ränge belegen Frankreich und Dänemark. Auch wenn die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern relativ streikarm ist, nehmen die Arbeitsniederlegungen seit der Jahrtausendwende wieder deutlich zu. Aktuellstes Beispiel ist der Streik der Mitarbeitenden der Nachrichtenagentur SDA zu Beginn dieses Jahres. Dieser ist umso bemerkenswerter, als Medienschaffende nur selten zu kollektiven Kampfmitteln greifen. Auch sonst war in jüngster Zeit praktisch jeden Monat von Streikaktionen zu lesen. So streikten Taxifahrer, Angestellte eines Altersheims und Beschäftigte der ABB – alle in Genf. Das mag Zufall sein. Doch es ist offenkundig und zahlenmässig auch belegt, dass die Streikbereitschaft in der Westschweiz generell grösser ist als in der Deutschschweiz. Auch im Tessin wird öfter gestreikt. Arbeitskampf hat somit auch etwas mit der jeweiligen Kultur zu tun. Im Tessin streikten letzten Sommer auf dem Lago Maggiore sogar die Kapitäne von Kursschiffen.
Andreas Rieger spricht von einer «Renaissance der Streiks». Der ehemalige Co-Chef der Gewerkschaft Unia verfolgt die Arbeitskämpfe seit Jahren und führt auch Buch darüber. Rieger hat seit dem Jahr 2000 über 300 Arbeitskämpfe gezählt. Mehr als die Hälfte davon waren kurze Warnstreiks. Sie dauerten nicht länger als einen Tag, oft sogar nur wenige Stunden. Der längste Streik ereignete sich in der Giesserei Swissmetal in Reconvilier (BE) in den Jahren 2004 und 2006. Er dauerte insgesamt 38 Tage. Und der Streik bei den SBB-Werkstätten in Bellinzona im Jahr 2008 endete erst nach 33 Tagen.
Der Anstieg der Anzahl Streiks hat einerseits mit dem schwindenden Streiktabu zu tun. Lange herrschte die Meinung vor, Streiks seien in der Schweiz verboten. Seit das Streikrecht im Jahr 2000 in der Bundesverfassung verankert wurde, sind die Gewerkschaften zu einem offensiveren Vorgehen in Konflikten motiviert. Andererseits sind die vermehrten Streiks auch ein Spiegel der verschärften Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz. Charakteristisch für die heutige Situation ist, dass quer durch alle Branchen hindurch gestreikt wird. Selbst dort, wo es wegen der starken Vereinzelung und des fehlenden gewerkschaftlichen Bewusstseins niemand für möglich gehalten hätte. So verweigerten die Pflegerinnen einer privaten Spitexfirma in Küsnacht im Juni 2014 zwei Wochen lang die Arbeit, weil sie Überstunden nicht ausbezahlt erhielten. Die geschilderten Streiks im Detailhandel beim Grossverteiler Spar sind ein weiteres Beispiel. Oder auch die Angestellten von Merck Serono in Genf – lauter hoch qualifizierte WhiteCollar-Beschäftigte, die im Sommer 2012 fünf Tage lang gegen die Schliessung ihres Betriebes protestierten. Es gibt heute praktisch keine Wirtschaftszweige mehr, in denen sich Arbeitnehmende nicht gegen Zumutungen aus der Chefetage zur Wehr setzen würden.

Die meisten Streiks führen zu (Teil-) Erfolgen

Die meisten Streiks sind Abwehrkämpfe gegen Verschlechterungen: Notwehraktionen gegen Massenentlassungen, drohende Betriebsschliessungen und Lohnkürzungen oder unzumutbare Arbeitsbedingungen. Nur in einem Fünftel der Arbeitskämpfe stellten Arbeitnehmende Forderungen nach weitergehenden Verbesserungen. Einer der wenigen Streiks mit Blick nach vorn war der Kampf der Bauarbeiter für die Frühpensionierung mit 60. Dieser bedeutendste sozialpolitische Kampf der jüngeren Geschichte endete 2002 mit dem Sieg der Bauarbeiter. Seither können diese vorzeitig in den Ruhestand treten.
Dass Streiken etwas bringt, beweist nicht nur dieser Grosskampf einer ganzen Branche. Dies legen auch die beiden eingangs erwähnten Pionierkämpfe beim Detailhändler Spar nahe. Beide zogen längerfristige Verbesserungen an den Arbeitsplätzen nach sich. Laut der Bewertung von Andreas Rieger blieben nur 10 Prozent der Streikaktionen völlig erfolglos. In allen anderen erreichten die Betroffenen ihre Ziele weitgehend oder zumindest teilweise. Zum Beispiel holten die Angestellten von Merck Serono einen guten Sozialplan heraus, auch wenn sie die Stilllegung ihres Betriebes nicht abwenden konnten. Oft genügt bereits ein Warnstreik, damit es sich ein Arbeitgeber nochmals überlegt und einlenkt. Er realisiert dann, dass ihm eine aktionsbereite Belegschaft gegenübersteht – und dass er unter Umständen negative Schlagzeilen in den Medien riskiert. Ein Streik bleibt sowohl für die Betroffenen wie auch die Gewerkschaften aber stets die letzte Option. Diese kommt erst dann ins Spiel, wenn der Dialog am runden Tisch nichts bringt. Oder wenn gar kein Gespräch stattgefunden hat, weil es der Patron oder das Management verweigert hat.
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