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15.03.2018 von Roland Fischer

Vom Mut, es einfach mal selbst zu versuchen

Wenn Angestellte kurzentschlossen ihre Firma übernehmen und sie so vor dem Konkurs retten, brauchen sie viel Mumm. Das zeigt das Beispiel des «Musigbistrots» in Bern. Der Gastrobetrieb ist eines der seltenen Schweizer Beispiele für einen Workers-Buy-out.

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Da wird Wikipedia beinah poetisch: «Genossenschaften sind Wertegemeinschaften, die in der Regel Ziele verfolgen, die über reine Wirtschaftsbetriebe hinausgehen.» Und weiter im Text: «In Tradition ihrer Gründer vertrauen Genossenschaftsmitglieder auf die ethischen Werte Ehrlichkeit, Offenheit, Sozialverantwortlichkeit und Interesse an anderen Menschen.» Es kann schon sein, dass da etwas Sentimentales in der Idee der Genossenschaft liegt, ein Idealismus, der zuweilen hin zur grossen Weltverbesserung tendierte. Nicht selten werden Genossenschaften aber aus der puren Not geboren. Wie das Musigbistrot-Kollektiv in Bern.
«Die Not und das Leben» hätten sie in dieses Abenteuer getrieben, sagt die studierte Sozialarbeiterin Dragana Draca. Vor etwas mehr als zwei Jahren ging gar nichts mehr in dem kleinen Gastrobetrieb, der sich mit regelmässigen Konzerten einen Namen gemacht hatte. Burn-out beim Wirt, aufgelaufene Schulden, verärgerte Geschäftspartner. Obwohl die Beiz doch eigentlich gar nicht schlecht lief. Die Angestellten wollten nicht einfach aufgeben – «wir hatten das Musigbistrot gern» –, stattdessen packten sie die Gelegenheit beim Schopf: Warum nicht selber Chef werden und zeigen, dass man doch eigentlich ganz gut weiss, wie der Laden läuft? Workers-Buy-out nennt man das im Fachjargon, es ist das kollektive Pendant zum besser bekannten Management-Buy-out. Oft organisieren sich die ehemaligen Angestellten und neuen Firmenbesitzer in Form einer Genossenschaft. Im Grunde änderte der Schritt vom Angestelltenverhältnis hin zum Mitglied einer Genossenschaft ja gar nicht so viel, meint Draca: «Es war eigentlich sowieso klar, dass die Leute den Betrieb selber geschmissen haben.» Der Chef als Strohmann – in dessen Händen aber gerade im Krisenfall eben doch viel zu viel Verantwortung liegt.

Knappe Kapitalverhältnisse

Die Einsicht ist nicht neu, dass es keine schlechte Idee ist, die Verantwortung auf viele zu verteilen – gerade in schwierigeren Zeiten. Die Anfänge der Schweizer Genossenschaftsbewegung liegen im 19. Jahrhundert, doch ihre Wurzeln reichen weiter zurück, bis hin zu gemeinschaftlich organisierten Talschaften oder Alpgenossenschaften. Und schon früh war klar, dass es da um ein wenig mehr ging als um blosses möglichst funktionales Wirtschaften. So schreibt das «Historische Lexikon der Schweiz»: «Genossenschaften entwickelten sich ausserdem aus philanthrop.-paternalist. Gründungen und aufgrund sozialreformer. Bestrebungen. Auch Konzepte genossenschaftl. Selbsthilfe als Mittel auf dem Weg zu einer sozialist. Gesellschaft waren bedeutend.» Sozialismus? Verstehen also die Musigbistrot-Macherinnen und -Macher ihr Unterfangen auch ein wenig politisch? Sie persönlich vielleicht, sagt Draca, die in Jugoslawien aufwuchs, sie habe in jungen Jahren ganz selbstverständlich gelernt, wie Betriebe selbstreguliert funktionierten. Aber die anderen teilten diese politische Motivation kaum. «Wir sind mehr eine Familie», ein kunterbuntes Team mit ganz verschiedenen beruflichen und kulturellen Hintergründen. «Wir haben uns einfach ein kleines Stück Freiheit gegeben.»
Und obwohl die knappen finanziellen Verhältnisse nach wie vor Sorgen machen: Das mit der selbstverordneten kleinen Freiheit scheint zu klappen, das Kollektiv läuft ganz gut. Im Dezember feierte man das 25-jährige Bestehen des Bistrots – davon zwei Jahre als Genossenschaft – und sieht einigermassen optimistisch in die Zukunft. «Wenn es sein muss, dann arbeiten wir eben gratis», sagt Draca. Neben der etwas anderen ideologischen Ausrichtung sind die finanziellen Verhältnisse natürlich ein sehr handfester Unterschied zum Management-Buy-out. Workers-Buy-outs sind oft einigermassen prekäre Unternehmungen, die Kapitalverhältnisse fast immer knapp. Bekam das Musigbistrot nie Angst vor der eigenen Courage? Vor dem Risiko, ein paar Monate später mit einem Schuldenberg dazustehen? Draca winkt ab, auf einnehmend unbekümmerte Weise: «Wissen Sie, wir haben alle Backgrounds, die nicht leicht waren. Die panische Angst, in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten, teilen wir nicht.»

Auch die United Airlines wagten es

Wenn es um Unternehmen mit Zielsetzungen geht, «die über reine Wirtschaftsbetriebe hinausgehen», sind die entsprechenden Konzepte – ob Kollektivierung oder Verstaatlichung – meist stark ideologisch aufgeladen. Der Workers-Buy-out bietet sich da als wunderbar unideologische Variante an. Die vielleicht überraschendste Referenz hierzu ist der Fall United Airlines, die sich nach einigen Querelen Anfang der 1990er-Jahre in die weltweit grösste Aktiengesellschaft im Besitz der eigenen Mitarbeiter («employee-owned corporation») umwandelte. Im Juli 1994 schrieb die «New York Times»: «Der Abschluss des Buy-outs nach sieben dramatischen Jahren komplexer Verhandlungen dürfte dem Modell, Unternehmen in den Besitz der Angestellten zu überführen, einen Popularitätsschub verleihen, besonders bei Firmen, die mit Kostensenkungen kämpfen. Tatsächlich hat auch die Clinton-Administration ihre Unterstützung für Employee-Ownership-Modelle bekundet, als Weg, Arbeitsplätze zu sichern.» Folgen liess die Zeitung ein vollmundiges Zitat des Arbeitsministers Robert B. Reich: «Unweigerlich werden sich andere Firmen von dem Schritt überzeugen lassen. Ab heute wird es für ein Firmenmanagement unmöglich sein, nicht auch Employee-Ownership als eine potenzielle Business-Strategie in Betracht zu ziehen.»
Fast 25 Jahre später (und nach einigen weiteren Umbauten bei United, die von der genossenschaftlichen Idee nicht viel übrig liessen) darf man da getrost ein paar Fragezeichen setzen. In der Schweiz jedenfalls ist die Anzahl der Genossenschaften seit Mitte des 20. Jahrhunderts kaum mehr gestiegen, in den letzten Jahren ist sogar ein markanter Schwund zu spüren. Die goldenen Gründungsjahre erstreckten sich von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg: Die Zahl der Genossenschaften stieg von 383 im Jahr 1883 auf rund 11 000 nach dem Krieg. 2002 waren in der Schweiz noch 12 975 Genossenschaften eingetragen, heute sind es weniger als 10 000. Die Rechtsform Genossenschaft schien in jüngster Zeit nicht mehr sonderlich populär zu sein.

Mutige Geldgeber in Italien

Aber ändert sich das womöglich gerade wieder? Die Workers-Buy-outs kommen jedenfalls passend zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz, Stichwort Teilhabe und Partizipation. In anderen Ländern werden genossenschaftliche Initiativen wie das Musigbistrot-Beispiel auch schon sehr viel direkter gefördert. In Italien zum Beispiel sind Workers-Buy-outs einiges weiter verbreitet als in der Schweiz, dank staatlicher Unterstützung und vor allem der Initiative von Geldgebern mit dem nötigen finanziellen Rückhalt. Vor allem der Coopfonds, ein Fonds des Genossenschaftsdachverbandes Legacoop, ist diesbezüglich von entscheidender Bedeutung, die Institution hat seit 2008 gegen 50 Workers-Buy-outs unterstützt und so weit mehr als 1000 Stellen in allen Regionen Italiens gerettet. Eine gewisse Berühmtheit erlangt hat das Beispiel der Edeldruckerei Zanardi in Padua, sogar die «New York Times» hat über die Übernahme des Traditionsbetriebes durch die Angestellten berichtet. Eine legendäre uralte Druckerei, die eigentlich keine Chance mehr hatte auf dem Weltmarkt. Bloss dass die Angestellten das nicht glauben mochten. Und den Betrieb seither selbstverwaltet weiterführen, ein wenig kleiner, ein wenig vernünftiger vielleicht auch. Das Musigbistrot hatte mit weniger schwierigen Umständen zu kämpfen – und konnte immerhin auf die Unterstützung der Unia zählen. Zudem stand der Liegenschaftsbesitzer Fambau – ebenfalls eine Genossenschaft – von Anfang an hinter der Idee, das hilft natürlich. «Während wir immer Schiss hatten vor jeder Sitzung, haben die Besitzer uns psychologisch betreut, haben uns Mut gemacht», sagt Draca. Vielleicht geht es beim erfolgreichen Wirtschaften auch ein wenig darum: die Chuzpe, es einfach mal selber zu versuchen, und das (Selbst-) Vertrauen, dass man es schon managen wird. Ob man nun ein Management-Diplom in der Tasche hat oder nicht.
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