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16.06.2021 von Stefan Boss

Zeit für eine neue Initiative?

Kurz nach der Ölkrise von 1973 lancierten Burgdorfer Technikstudenten eine nationale Volksinitiative für zwölf autofreie Sonntage pro Jahr. Das Volk lehnte sie zwar ab, aber heute mutet sie angesichts der Klimakrise fast schon visionär an. Was ist davon geblieben? 

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Illustration: Claudine Etter

Plötzlich sah man in der Schweiz Verwunderliches: Leute, die mitten auf der Autobahn ihr Familienzelt aufstellten und picknickten. Kinder, die in breiten Reihen mit Rollschuhen und Velos auf der Hauptstrasse flitzten. Und eine Woodstock-Ikone, die Folk-Sängerin Joan Baez, die in Montreux auf einem Pferd zu ihrem Konzert ritt. Es war im Jahr 1973 und der gesamte Autoverkehr in der Schweiz stand still. An drei Sonntagen Ende November und Anfang Dezember jedenfalls. Viele Menschen über 50 verbinden heute noch positive Erinnerungen mit diesem Ereignis. Sogar der Autoimporteur Amag sprach kürzlich in einem Rückblick zum Firmenjubiläum von einem «Gaudi auf den Autobahnen» und einer «ausgelassenen Stimmung».

Der Grund für die ausserordentliche Massnahme lag in einer internationalen Krise, ausgelöst durch einen Konflikt zwischen Israel und den arabischen Staaten. Wegen des Jom Kippur-Kriegs drosselten die erdölexportierenden Staaten ihre Liefermengen, der Ölpreis stieg markant. Um Benzin zu sparen, verordnete der Bundesrat drei autofreie Sonntage in Folge.

Gegen Luftverschmutzung und Verkehrstote

Hansjörg Wittwer war damals 21 und absolvierte ein Elektroingenieur-Studium am Technikum Burgdorf. Er erinnert sich noch gut an diese bewegten Tage: «Viele sahen, dass es kein Drama war, mal aufs Auto zu verzichten», sagt er am Telefon. Mit einigen Kollegen vom Technikum Burgdorf lancierte er kurz darauf eine nationale Volksinitiative für 12 autofreie Sonntage pro Jahr («Burgdorfer Initiative»). Die Idee sei gemeinsam in einer Unterrichtsstunde entwickelt worden. Einmal pro Monat wäre demnach jeglicher private Motorfahrzeugverkehr «zu Land, zu Wasser und in der Luft» untersagt worden. Wittwer wurde Präsident des Vereins für die Initiative, weil sie niemand anderen gefunden hätten, wie er lachend anmerkt.

«Wir wollten die Leute zum Umdenken anregen», sagt Wittwer, der parteipolitisch nicht gebunden ist. Im Jahr zuvor hatte der Club of Rome den Bericht «Die Grenzen des Wachstums» veröffentlicht, der auch in der Schweiz gross diskutiert wurde. Der Treibhauseffekt war damals laut Wittwer kein Grund für die Lancierung der Initiative, wohl aber die durch Autos verursachte Luftverschmutzung (u. a. Stickoxide, Autos fuhren noch ohne Katalysator). Daneben nennt er die damals weit über 1000 Strassentoten pro Jahr und die Verdrängung der Fussgängerinnen und Fussgänger.  

Krachende Niederlage an der Urne

Die nötigen Unterschriften hatten die Initianten (acht Männer und eine Frau) schnell beisammen. Mit von der Partie war auch Josef Jenni, der später mit seinem Unternehmen Jenni Energietechnik ein Pionier der Solarenergie wurde. Für den Abstimmungskampf bildeten sie ein breit abgestütztes Patronatskomitee. Die Abstimmung im Mai 1978 ging aber krachend verloren. Bloss 36 Prozent stimmten der Initiative zu, in der französischen Schweiz fiel die Ablehnung noch wuchtiger aus. Über 40 Prozent Ja erreichte die Initiative nur in den Kantonen Bern, Zürich und (Überraschung!) in Appenzell-Ausserrhoden.

Ein Dutzend autofreier Sonntage sei wohl für die meisten Stimmbürger «zuviel» gewesen, liess sich Wittwer am Tag nach der Abstimmung in der Tageszeitung «Die Tat» zitieren. Als Cartoon zeichnete das Blatt einen Bodybuilder auf einem Siegespodest – sein Kopf bestand aus einem Autopneu. Die Zeitung «Der Bund» machte als Grund für das Nein «berechtigte Zweifel an der Durchführbarkeit dieser wirklich einschneidenden Massnahme im Dienst des Umweltschutzes» aus.

Chancenlose neue Anläufe auf nationaler Ebene

Seither sind über 40 Jahre vergangen. Was ist in dieser Zeit passiert? Zwar wurde kurz nach der Ablehnung der Initiative der Verkehrsclub der Schweiz (VCS) gegründet, und moderne Autos stossen deutlich weniger Schadstoffe aus. Aber es sind auch mehr als doppelt so viele Personenwagen unterwegs wie damals! Flächendeckende autofreie Tage gibt es in der Schweiz noch immer nicht – obwohl die Forderungen immer bescheidener wurden. 2003 scheiterte eine Volksinitiative für vier autofreie Sonntage fast ebenso deutlich wie damals die «Burgdorfer Initiative».

Cédric Wermuth nahm vor zwei Jahren im Nationalrat einen neuen Anlauf: Er reichte eine Motion ein für vier autofreie Sonntage, einen pro Jahreszeit. Damit wollte er ein «schnelles und starkes Zeichen für einen Umbau der Mobilität setzen», wie er in der Begründung schrieb. Die Motion wurde aus zeitlichen Gründen im Parlament nicht einmal behandelt und deshalb kürzlich abgeschrieben. «Sie wäre im jetzigen Parlament chancenlos gewesen», sagt der Aargauer Politiker, der im letzten Herbst zum Co-Präsidenten der SP Schweiz gewählt wurde.

Heute gehen die Städte voran

Das Thema «autofreie Strassen» sei damit aber nicht erledigt, findet Wermuth. Der Anstoss müsse jedoch aus den Städten kommen, auf nationaler Ebene sei eine Umsetzung schwierig. «Die Autolobby ist sehr stark in der Schweiz», hält er fest. Er begrüsst es, dass viele Schweizer Städte versuchen, den Verkehr zu beruhigen, auch wenn man hierzulande noch nicht so weit sei wie beispielsweise in Paris oder Barcelona.

So plant die Stadt Zürich, während der diesjährigen Sommerferien in den Kreisen 1, 3, 4 und 5 fünf Quartierstrassen für den Autoverkehr zu sperren. Das Projekt «Brings uf d’Strass» stammt aus dem Tiefbaudepartment von AL-Stadtrat Richard Wolff. Allerdings gibt es mehrere Einsprachen dagegen. Deshalb sei noch offen, wie das Vorhaben konkret umgesetzt werde, schreibt Roger Muntwyler vom Zürcher Tiefbauamt auf Anfrage.

Auch Schaffhausen und Winterthur möchten an Sonntagen gewisse Strassen sperren. In Winterthur nahm das Stadtparlament eine Motion für vier autofreie Sonntage pro Jahr an. Der Stadtrat will zum Auftakt am 26. September die Technikumstrasse in der Innenstadt sperren. Auf Grundlage dieser Erfahrungen sollen künftig vier autofreie Sonntage durchgeführt werden, wie die grünliberale Stadträtin Katrin Cometta im Regionaljournal von Radio SRF erläuterte. Die rechtlichen Grenzen sind aber eng. Da Kantonsstrassen in der Hohheit der Kantone liegen, dürfen sie von der Stadt nicht gesperrt werden.

Freie Velofahrt über die – französischen – Alpen

Nicht nur die zeitweise Umnutzung von Strassen in den Städten verläuft harzig, sondern auch jene von Alpenpässen: An einzelnen Tagen am Wochenende sollen sie dem Veloverkehr vorbehalten bleiben, so die Idee des Vereins Freipass mit Sitz in Basel. Der Verein führt eine Liste mit geplanten Aktionen, organisiert werden diese inzwischen unter der Bezeichnung «Ride the Alps» von Ochsner Sport und Schweiz Tourismus.

Freipass hat sich von der Organisation dieser Anlässe zurückgezogen, weil «der Aufwand im Vergleich zum Ertrag einfach zu gross wurde», sagt Vereinspräsident Simon Bischof. Denn in der Schweiz seien es nur eine Handvoll autofreier Tage – dies im Gegensatz zu Frankreich, wo es «weit über 100 autofreie Tage auf Passstrassen» gebe, obschon Frankreich selber Autos produziere.

Höchste Zeit, grösser zu denken

Wäre es angesichts dieser Schwierigkeiten im Kampf für autofreie Strassen vielleicht an der Zeit, über die Lancierung einer neuen Volksinitiative nachzudenken? Die in den 1970er-Jahren vorgebrachte Idee für zwölf autofreie Sonntage erscheint in Anbetracht der aktuellen Klimakrise fast schon visionär und könnte als Inspiration dienen. Zugegeben, ein paar autofreie Sonntage führen direkt nur zu einer geringen Reduktion der CO2-Emissionen. Deshalb sollte man etwas grösser denken.

Warum also nicht eine Initiative für zwölf Autosonntage lancieren?  An diesen hohen Feiertagen wäre Autofahren weiterhin erlaubt, an den übrigen 40 Sonntagen und an allen Werktagen wären die Strassen spielenden Kindern, Fussgängerinnen, Rollerbladern und Velofahrerinnen vorbehalten. Über ein paar Ausnahmen, zum Beispiel für leichte Elektrofahrzeuge und für die Logistikbranche, könnte man diskutieren. Die Umsetzung einer solchen Idee brächte die Schweiz jedenfalls auf Klimakurs.

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