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16.06.2021 von Roland Fischer

« Eine autofreie Welt ist möglich »

Gibt es bezüglich Mobilität einen gesellschaftlichen Wandel? Tatsächlich legen sich immer weniger junge Menschen ein Auto zu. Der Soziologe Vincent Kaufmann erklärt, welche langfristigen Auswirkungen die Pandemie auf unser Mobilitätsverhalten hat, wie selbstfahrende Autos in der Zukunft sinnvoll genutzt werden könnten und wie eine Welt ohne Autos aussehen könnte.

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Illustration: Claudine Etter
moneta: Herr Kaufmann, im letzten Gespräch mit moneta meinten Sie, wenn die Entwicklung der Mobilität so weitergehe, werde die Schweiz zu einer einzigen grossen Stadt, «einer Art multi­polaren Metropole». Doch diese Entwicklung passiere einfach, ohne jede politische Vision. Wo ­stehen wir vier Jahre und eine Pandemie später?
Vincent Kaufmann: Eine echte Vision sehe ich nach wie vor nicht. Die Pandemie hat das Problem allerdings zugespitzt und für einige Verschiebungen gesorgt. Lange Reisen ­haben sich stark reduziert, vor allem Pendler sind viel weniger unterwegs. Die grosse Frage ist tatsächlich: Wird nach der Pandemie wieder die alte Normalität einkehren?

Was glauben Sie? Kommt eine Zukunft mit grundsätzlich weniger Mobilität?

Das hängt natürlich davon ab, wie man Mobilität definiert. Wir sind nicht mobil um der Mobilität willen – es geht da immer um ein Ziel: sei es das Sozialleben, sei es Erholung oder natürlich der Arbeitsweg. Man sollte also davon ­wegkommen, Mobilität in Kilometern zu messen, und sich stattdessen anschauen, wie viel Aktivität das Mobilsein ­ermöglicht. So gesehen können wir durchaus weniger unterwegs sein und trotzdem mehr Mobilität geniessen.

Das klingt paradox. 

Nicht unbedingt. Wenn wir weniger Zeit in Verkehrsmitteln verbringen, wird andere Aktivität möglich – man erlangt also mehr Bewegungsfreiheit.

Vor allem wenn man nicht hinter dem Steuer sitzt. Da denkt man natürlich an selbstfahrende Autos.

Ja, das ist allerdings ein wichtiger Punkt für die Autoindustrie: wieder dafür zu sorgen, dass das Auto zum Träumen verführt. Und ein grosser Traum ist derzeit tatsächlich, sich vom Auto herumkutschieren zu lassen. Vor allem bei der jungen Generation hat das Auto ein grosses Imageproblem. Ich habe für Renault und Toyota gearbeitet: Diese Firmen wissen genau, dass das autonome Fahren nicht einfach ein technisches Feature ist, sondern dass sich damit entscheidet, ob man eine junge Käuferschaft wieder für das Auto begeistern kann – oder ob das Auto seinen Mythos komplett verliert.

Und was denken Sie: Werden sich selbstfahrende Autos durchsetzen?

Technisch wird das nicht so einfach. Ich bin nicht sicher, ob ich das selber noch erleben werde. Auf jeden Fall wird es teuer.

Also eher kein neues Massenphänomen. 

Nein. Was aber auch gut ist, denn in meinen Augen wäre es ein ökologisches Desaster, wenn selbstfahrende Autos für alle erschwinglich würden. Dann könnte jeder fahren, und das Auto würde ständig für kleine Transporte losgeschickt, etwa um ein Medikament in der Apotheke abzuholen. Viel sinnvoller wäre es, in Flotten zu denken, nicht mehr im Sinn von «mein individuelles Auto». Wenn diese selbstfahrenden Autos zu einer Mischung von Bus und Taxi würden – ähnlich wie Sammeltaxis, die es bereits in vielen Städten gibt, in denen der öffentliche Verkehr nicht gut ausgebaut ist –, dann könnte das wirklich interessant werden. Bestenfalls kämen so industrielle und soziale Interessen zur Deckung.

Vincent Kaufmann ist Soziologie-Professor an der EPFL und wissenschaftlicher Leiter des Mobile Lives Forum in Paris. Er beschäftig

Wir hätten also keine eigenen Autos mehr, ­sondern würden sie uns teilen?

Ja, und das hätte natürlich viel weniger Autos auf den Strassen zur Folge, vielleicht ein paar Tausende bis zehntausend in einer Stadt.

Das heisst aber auch: Strassen bräuchten wir nach wie vor, und wir hätten noch dieselbe urbane Struktur?

Es wären die gleichen Städte, einfach mit weniger Verkehr. Aber natürlich, man könnte das auch radikaler denken. Städte haben Autos oder auch Flugzeuge nicht nötig, schliesslich haben sie über Jahrhunderte bestens ohne sie funktioniert. Städte und Mobilität gehören allerdings eng zusammen, aber das heisst nicht, dass diese Mobilität mit dem Auto passieren muss. In einem Forschungsprojekt haben wir unlängst eine «post-car world» durchgespielt (siehe Kasten unten). Und der Befund ist klar: Eine solche autofreie Welt ist absolut möglich.

Wie könnte sie aussehen? 

Eine Welt ohne Autos setzt voraus, dass alle alltäglichen Bedürfnisse in relativer Nähe bedient werden können, ein wenig wie die Idee der 15-Minuten-Stadt. Für die Schweiz von heute würde das bedeuten, viel öfter im Homeoffice zu arbeiten und ausserdem dafür zu sorgen, dass die Quartierläden – und andere lokale Dienstleistungen – wieder zurückkehren.

Aber die Autoindustrie ist einflussreich, auch ­politisch. Sind Sie optimistisch, dass sich die festgefügten Strukturen rund ums Auto ändern lassen?

Durchaus. Die Strukturen sind ja nicht in Stein gemeisselt. Es kann gut sein, dass wir gerade den Beginn einer ­grossen Umwälzung sehen. Braucht es zum Beispiel noch all die Garagen und damit die Arbeitsstellen, die mit dem Unterhalt der Autos zu tun haben, wenn der Anteil – weniger reparaturanfälliger – Elektroautos stark steigt? In der Folge könnten ganze Wirtschaftssektoren durcheinandergeraten, verbunden mit einem massiven Verlust an Arbeitsplätzen. Ich kann mir gut vorstellen, dass das Grundeinkommen deshalb bald ernsthaft zu einem ­Thema wird. Und plötzlich wird die Fixierung aufs Auto zu einem Kartenhaus, das zusammenfällt.

Wie können wir uns die Städte danach vorstellen?

Die Frage geht viel weiter als nur um das Auto. Wenn wir Städte erleben wollen, in denen die Strassen nicht vom Verkehr ­dominiert sind, müssen wir raus aus dieser Abhängigkeit von Geschwindigkeit, von der Idee, dass man in kurzer Zeit überall sein kann. Das bedeutet einen grossen raumplanerischen Umbau.

Beispielsweise?

Da braucht es ein grosses Umdenken: Wir müssen eine ­dezentralisierte, aber konzentrierte Raumplanung anstreben. Und auf der konkreten regulatorischen Ebene ­könnte man bei der Verkehrsgeschwindigkeit ansetzen und die Verkehrsflüsse verlangsamen.

Sehen Sie denn Anzeichen, dass sich da auf politischer Ebene etwas bewegt? Wir reden hier ja nicht einfach von «schöneren» Städten, sondern ganz konkret auch von Klimapolitik.

Von einem Klimanotstand, genauer gesagt. Ja, ich ­sehe tatsächlich ein Umdenken hin zu echten, strikten Massnahmen. Bis jetzt reichte es, Absichten zu be­kräftigen. Nun geht man einen Schritt weiter und überlegt sich auf Behördenseite, wie man diese in kon­krete Massnahmen umsetzt. Das ist neu.

Hat das auch mit der Pandemie zu tun?

Ja. Meiner Ansicht nach gibt es zwei Post-Covid-Visionen. ­Einerseits den Back-to-Business-Ansatz: Milliardenhilfen, um die bestehende Wirtschaftsmaschinerie wieder zum Laufen zu bringen. Auf diese Weise wird man in absehbarer Zeit nicht zu einer Stadt ohne Autos kommen. Auf der anderen Seite aber sehe ich die Chance, vieles anders zu denken. Wir befinden uns an einem Wendepunkt, und die entscheidende Frage ist: Haben wir wirklich Lust, einfach das alte ­Leben wieder aufzunehmen?

Forschungsprojekt zu einer Welt ohne Auto

Das vom Nationalfonds geförderte Sinergia-Projekt «Post-Car World» lief von 2013 bis 2018 und hatte die Leitfrage: Wie wäre eine Welt ohne Autos? Ziel des an der ETH Lausanne angesiedelten Projekts war, die Zukunft der Mobilität und die Rolle des Autos zu er­forschen und insbesondere Mobi­li­täts­­szenarien, die ganz ohne Autos auskommen.

Beispielhaft für die disziplinenübergreifende Perspektive des Projekts ist die erste von fünf Empfehlungen zuhanden wirtschaftlicher und politischer Entscheidungsträger: weniger auf Objekte, mehr auf umfassende gesellschaftliche Systeme fokussieren. Denn die Autowelt ist nicht nur eine Sache technischer Objekte oder Ge­rät­schaften: Sie ist eine ganzheit­liche, in sich konsistente Art von Gesellschaft. Wenn wir diese Welt verändern wollen, müssen wir sie als gesellschaftliches System angehen. Im April dieses Jahres ist ein aufwendig produziertes Buch mit viel Bildmaterial erschienen, das die Resultate des Projekts in gut verständlicher Form zusammenfasst. Vincent Kaufmann war am Forschungsprojekt und an der Publikation beteiligt.

Elena Cogato Lanza, Farzaneh Bahrami, Simon Berger, Luca ­Pattaroni (Hrsg.), «Post-Car World –  Futurs de la ville-territoire», ­Métis Presses, Genf, 2021
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