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16.06.2021 von Muriel Raemy

Die Stadt neu gestalten –  klimaneutral

Lausanne hat einen ehrgeizigen Klimaplan vorgelegt: Bis 2030 sollen benzin- und ­dieselbetriebene Autos aus der Stadt verbannt und der motorisierte Individualverkehr ­halbiert werden. Kann die Waadtländer Hauptstadt das schaffen? Der Wille ist da, ­doch die Herausforderungen sind riesig.

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Illustration: Claudine Etter
Die Lausanner Behörden liessen im Januar dieses Jahres eine Bombe platzen. Sie stellten ihren Klimaplan vor, der eine klimaneutrale Mobilität bis ins Jahr 2030 und die Reduktion aller direkten Emissionen auf null bis ins Jahr 2050 vorsieht. Im Massnahmenkatalog ganz vorne: Autos mit Verbrennungsmotor sollen bis 2030 vollständig von den Strassen verschwinden. Andere Städte folgen der Waadtländer Hauptstadt auf dem Fuss – Zürich strebt eine klimaneutrale Mobilität bis ins Jahr 2040 an, Basel bis 2050, und auch die Europäische Union wird im Juni im Rahmen ihres «Green Deal» ein Verbot von Autos mit Verbrennungsmotor innerhalb der EU vorschlagen. Das liberale Lager spricht im Zusammenhang mit dem Lausanner Klimaziel von einem «unmöglichen Versprechen». Für die Grünen und die Linksparteien hingegen ist der Plan bahnbrechend. Ist das der erste Schritt in Richtung autofreie Stadt?

Öffentlicher Raum soll Menschen gehören

«Nein! Auch wenn wir eine Mobilität möchten, die ich gern als gesund und beruhigt bezeichne, planen wir kein vollständiges Verschwinden der Autos», erklärt Florence Germond, SP-Stadträtin und Vorsteherin des Finanz- und Verkehrsdepartements. «Letztlich wünsche ich mir eine Stadt, in der der öffentliche Raum wieder dem Menschen gehört. Ich bin nicht gegen Autos, ich möchte nur mehr Fussgänger, mehr Velofahrerinnen, mehr Raum für Spiel und Begegnung auf unseren Strassen.» Der Lausanner Plan ist denn auch nuanciert: Nicht in erster Linie verbieten und bestrafen, sondern Anreize schaffen und begleiten. 
Überzeugen ist eine Sache, geplante Änderungen in so kurzer Zeit umsetzen – ohne Proteste wie jene der «Gelbwesten»-Bewegung in Frankreich hervorzurufen –, eine andere, insbesondere in einer Stadt mit so vielen Arbeitsplätzen. «Die Stadt hat die Kompetenz, über die wichtigsten Emissionsquellen wie Heizungen, Verkehr und Abfallentsorgung zu entscheiden. Es ist an uns, notwendige Veränderungen zu kommunizieren, mit der Bevölkerung in einen Dialog zu treten und gleichzeitig aufzuzeigen, dass Alternativen existieren und die Bevölkerung sich für diese entscheiden kann», ergänzt Fabien Roland, Verantwortlicher für den öffentlichen Raum der Stadt Lausanne.
Lässt sich das wirklich ohne einschneidende politische Massnahmen erreichen? Ist es nicht naiv, sich auf das – sicher wachsende – Bewusstsein oder auf einige wegweisende und inspirierende Beispiele zu verlassen? Sicher braucht es bei der Umsetzung aller geplanten Vorhaben eine konsequente Begleitung durch die öffentliche Hand, auch bei einer allfälligen Einführung neuer reglementarischer und steuerlicher Ansätze. Aber die Geschichte beschleunigt sich manchmal unerwartet schnell.

Auch kurzfristig sind grosse Umstellungen möglich

Nach dem ersten Lockdown im Spätfrühling 2020 wurden rund 700 Parkplätze auf einmal aufgehoben. «Die Leute mieden die öffentlichen Verkehrsmittel, und wir befürchteten eine Verlagerung des Verkehrs auf das Auto. Wir mussten schnell handeln, um einerseits die Empfehlungen zum Schutz der Gesundheit zu berücksichtigen und andererseits ein sicheres Fortbewegen mit dem Velo zu ermöglichen. Unser Handeln stiess auf viel Kritik, aber ein grosser Teil unserer Kritikerinnen und Kritiker gestand schliesslich ein, dass die Umgestaltung einer Nachfrage entsprach», freut sich Germond. Der mit der Massnahme gewonnene Raum ermöglichte mehr als 200 Cafés und Restaurants, eine Terrasse zu errichten oder die bestehende Terrasse zu vergrössern, und die Stadt konnte rund 7,5 Kilometer Velowege schaffen. Stadtmobiliar wie Tische, Bänke und Liegestühle sowie Topfpflanzen ergänzten die Umgestaltung einiger Strassen. «Die Bevölkerung nahm diese neuen Begegnungsorte sofort für sich ein und bewies damit, dass eine Veränderung der Nutzung des öffentlichen Raums in dieser Grössenordnung relativ kurzfristig möglich ist», meint Fabien Roland. 
Die aus der Pandemie gezogenen Lehren bekräftigen das Fazit einer Studie des dänischen Stadtplanungsbüros Gehl von Anfang letzten Jahres, wonach Kinder, alte Menschen und Frauen im öffentlichen Raum nicht vorkommen. «Wir haben funktionale Städte gebaut, und die Strassen waren für die Fortbewegung und eine effiziente Müllabfuhr gedacht. Doch was damals seine Richtigkeit hatte, passt jetzt nicht mehr. Die Strassen dienen heute als Parkplatz. Eine absurde Situation. Wenn man bedenkt, dass 46 Prozent der Lausanner Haushalte kein Auto besitzen und die Quote weiter zurückgeht, dann ist es Zeit für einen Paradigmenwechsel», stellt Florence Germond fest.

« Unsere Aufgabe ist, Lust auf eine Stadt mit weniger Autos zu machen.»
Florence Germond

«Stadt der Viertelstunde» als langfristiges Ziel

Das bedeutet, den Fussgänger- und Veloverkehr zu fördern, indem die Stadt Trottoirs verbreitert und eine Hauptverkehrsachse für den Veloverkehr aus jeder Himmelsrichtung ins Zentrum schafft, zudem umfangreiche Fussgängerzonen, eine restriktivere Parkplatzpolitik, Geschwindigkeitsbeschränkungen usw. Lausanne hat sich zum Ziel gesetzt, dass sich die mit dem Velo zurückgelegten Kilometer bis ins Jahr 2030 versiebenfachen und die zu Fuss zurückgelegten Kilometer in demselben Zeitraum um 20 Prozent zunehmen. 
Langfristig stellt sich die Stadträtin eine «Stadt der Viertelstunde» vor, ein Stadtentwicklungsmodell, das auf Nähe beruht und in zahlreichen grossen Städten langsam umgesetzt wird. Das Prinzip: Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Freizeitanlagen, Kulturangebote, Gesundheitsdienste – alles soll in höchstens fünf Minuten mit dem Velo und 15 Minuten zu Fuss erreichbar sein. Das Auto erübrigt sich. «Das Modell ist eher für neu entstehende Quartiere gedacht. So wurden diese Überlegungen von Anfang an bei der Planung des Quartiers Plaines-du-Loup und des Bahnhofsviertels berücksichtigt. Aber Lausanne ist stark fragmentiert. Die meisten Leute legen weite Distanzen zurück, um zur Arbeit zu gelangen.»

Es braucht neue gesetzliche Grundlagen

Wenn Lausanne Autos mit Verbrennungsmotoren aus der Stadt verbannen will, müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen auf Kantons- und auf Bundesebene angepasst werden, denn sonst sind die angestrebten Änderungen nicht realisierbar. Unter dem aktuellen Strassenverkehrsgesetz ist es nicht möglich, den Zugang zu Strassen mit bestimmten Arten von Autos zu verbieten. Aber die Lausanner Stadtregierung will sich auf kantonaler und nationaler Ebene für entsprechende Gesetzesänderungen starkmachen.
In der Zwischenzeit setzen die Lausanner Behörden alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein, um die Mobilität in der Waadtländer Hauptstadt emissionsfrei zu machen: Modernisierung bestehender Metro-­Linien, Bau einer neuen Linie, Wiedereinführung der Trams, Erhöhung der Kapazität und Verkürzung der Taktzeiten im öffentlichen Verkehr. Gemäss Statistiken werden die Veränderung im Mobilitätsverhalten und die prognostizierte demografische Entwicklung in Lausanne zu einer Zunahme der zurückgelegten Fahrkilometer im öffentlichen Verkehr von 45 Prozent führen. Für Florence Germond müssen sich die Tarifmodelle im öffentlichen Verkehr verändern, damit beim Zugang zur Mobilität keine soziale Ungleichheit entsteht. Doch die Städte haben leider wenig Kompetenzen in Tariffragen. Eine umfassende Politik für einen kostenlosen oder preisgünstigen öffentlichen Verkehr ist aus organisatorischen und finanziellen Gründen nur auf kantonaler oder nationaler Ebene möglich. «Auch hier wird Lausanne proaktiv sein. Wir wollen ÖV-Abonnements für Sozialhilfebezügerinnen, Rentnerinnen und Studierende subventionieren. Es reicht nicht aus, nur Massnahmen zu treffen, die leicht umzusetzen oder be­sonders kostengünstig sind. Wir müssen jetzt ganze Massnahmenpakete ergreifen, die so beschaffen sind, dass wir die festgelegten Ziele zur Emissionsreduktion erreichen.» Natürlich bleibt das Risiko bestehen, dass die Strassen bald voll mit Teslas und elektrischen SUV sind. Doch hinter den Worten von Florence Germond verbirgt sich der feste Wille, die im Klimaplan formulierten Ziele zu realisieren. «Unsere Aufgabe ist, Lust auf eine Stadt mit weniger Autos zu machen und den Mehrwert eines solchen Projekts für alle aufzu­zeigen.» Jetzt müssen nur noch die Mittel dazu geschaffen werden.
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