Wie lässt sich eine Demokratie stärken? Beispielsweise indem sie weiterentwickelt wird. Ansonsten kann das politische System der Gesellschaft, die sich laufend verändert, nicht mehr gerecht werden. Wo aber hat die Schweizer Demokratie heute Reformbedarf?
Im Prinzip sind unsere demokratischen Instrumente ebenso alt wie der Bundesstaat, manche wie die Volksinitiative auch noch älter, sie gab es mancherorts schon auf kantonaler Ebene. Angesichts der grossen gesellschaftlichen Veränderungen in den vergangenen fast zwei Jahrhunderten haben wir es also mit beinahe urtümlichen politischen Strukturen zu tun. Das müsste doch auch anders gehen, die Demokratie muss doch mit der Zeit gehen, haben sich da schon manche gedacht – unter anderem führte das zur Briefwahl. Wie man weiss, mahlen die demokratischen Mühlen hierzulande allerdings langsam: Die Briefwahl für alle führten die ersten Kantone (Baselland, St. Gallen und Appenzell Innerrhoden) Ende der 1970er-Jahre ein. Auf Bundesebene erfolgte dieser Schritt 1994, im Kanton Tessin sogar erst 2015.
Pionierhafte Piraten-Partei
Und was ist mit der Digitalisierung? Müssen wir da vielleicht auch noch 100 Jahre warten, bis sie Einzug in die demokratischen Prozesse findet? Wir alle verbringen ganz selbstverständlich viel Zeit in digitalen Räumen, wir erledigen unsere Finanzen und auch schon manche Amtsgeschäfte online, aber abstimmen, wählen, sich womöglich aktiv politisch beteiligen? Das alles tun wir ganz analog, im Grunde regiert da noch das Prinzip Landsgemeinde. Die Demokratie, ein versteinertes, verkrustetes Relikt? So schien das zum Beispiel den Piraten, vor allem in Deutschland. Sie riefen kurzerhand die Ära der «Liquid Democracy» aus, um die Demokratie mit digitalen Mitteln ganz neu zu denken. Ein flüssiges Repräsentativsystem, in dem man die eigene Stimme ganz nach Interessenlage abdelegieren kann. Die Strukturen wurden im engeren Kontext der Piraten-Partei erprobt, die «Liquid Democracy» bekam aber bald Vorbildfunktion für das grosse politische Ganze. Nachzulesen in einem Positionspapier der Piraten Basel aus dem Jahr 2012: «Der Kanton Basel-Stadt führt schrittweise ‘Liquid Democracy’ ein. ‘Liquid Democracy’ erlaubt es, die Einflussmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger mit Hilfe des Internets deutlich umfassender zu gestalten, als dies bisher möglich war. Durch diese Massnahme werden die direktdemokratischen Instrumente ausgebaut und erweitert. Die Teilnahme am politischen Prozess wird gestärkt. Die langfristige Folge ist die Abschaffung des repräsentativen Parlaments, da es durch die Instrumente von ‘Liquid Democracy’ überflüssig wird.»
Mehr Aufwand führt zu grösseren Hürden
Pat Mächler hat an dem Papier mitgeschrieben – hat aber nie zu denen gehört, die gleich an die Abschaffung der Parlamente glaubten. Die Probleme mit der «Meritokratie» seien sowohl bei den Deutschen Piraten wie auch bei einem Liquid Democracy-Experiment an der Uni Basel deutlich geworden. Wie lassen sich tatsächlich mehr Menschen einbeziehen, die nicht ohnehin schon aktiv Politik betreiben? Und wie lassen sich Machtballungen vermeiden, wenn der passive Teil der Gruppe seine Stimmen einfach irgendwohin abdelegiert ohne Interesse am weiteren demokratischen Prozess? Solche Machtballungen zeigen nun einmal die Tendenz zu verklumpen: So ganz flüssig lief das mit der «Liquid Democracy» insofern nicht. Daniel Graf, Gründer von WeCollect und Autor von «Agenda für eine digitale Demokratie» (2021), glaubt auch, dass zu hohe Erwartungen an «Liquid Democracy» geknüpft waren. Es seien viele spannende Prototypen entstanden. Dass die aber «nicht ganz zum Fliegen gekommen» seien, lag seiner Ansicht nach vor allem am exponentiell steigenden Aufwand, wenn sich eine immer grössere Gruppe an einer Diskussion beteiligen will. «Das ist das Organisationsproblem, das man immer hat in der Demokratie» – je mehr Menschen involviert sind, desto komplizierter wird es, also baue man Strukturen. Und damit baut man auch Hürden.
Digitale partizipative Projekte gibt es natürlich immer noch, heute dreht man aber lieber an kleinen Stellschrauben, als gleich das grosse Ganze zu reformieren. Beispielsweise soll die Plattform Lausanne Participe «die Lausanner Bevölkerung ermutigen, sich an der Verbesserung ihrer Lebensqualität zu beteiligen». Die Online-Plattform ist als Ergänzung zu Präsenzveranstaltungen gedacht und bietet die Möglichkeit, sogenannte Beteiligungsräume (Initiativen, Versammlungen, Prozesse oder Konsultationen) einzurichten. Es existiert auch ein «Budget participatif» – wer allerdings erwartet, dass man da bei stadtpolitisch relevanten Budgetposten mitreden kann, wird enttäuscht: Es geht um kleinere Projekte wie Strassenbegrünungen oder Ideen für die Umgestaltung von Parks.
Reine Symbolpolitik?
Man wird den Eindruck nicht los, dass solche Plattformen Partizipation vor allem an Orten ermöglichen, wo Demokratie «nicht weh tut». Entscheidendere Impulse für eine «neue Demokratie» erhofft man sich von sogenannten Bevölkerungsräten. Diese werden derzeit von den Universitäten Zürich und Genf mit dem Projekt «Bevölkerungsrat 2025» erforscht. Eben ist die erste Runde zu Ende gegangen. Der aus 100 zufällig ausgelosten Einwohnerinnen und Einwohnern aus der ganzen Schweiz gebildete Bevölkerungsrat übergab Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider den Abschlussbericht zum Thema «Steigende Gesundheitskosten». Darin spricht sich der Rat für ein nationales Gesundheitsgesetz aus, dazu auch für eine Lenkungssteuer auf Alkohol und Tabak und für die Förderung von Gesundheitskompetenzen in allen Lebensphasen. Inwiefern diese Vorschläge allerdings konkrete politische Wirkung entfalten, ist noch mehr als unklar. Ähnliches gilt für das «Parlament der Menschen», das dieser Tage in Berlin von der Klimabewegung einberufen wurde. Auch hier wurden die Beteiligen ausgelost, Ziel sei es, einen Katalog an Prinzipien für eine «neue Generation der Demokratie» zu erarbeiten. Eine Aktivistin bezeichnete den Bundestag der Tageszeitung taz gegenüber als «Parlament des Geldes».
Daniel Graf beobachtet diese Entwicklungen mit Interesse, aber er glaubt nach wie vor, dass das eigentliche Potential im Digitalen liegt. «Wir sind an einem entscheidenden Punkt, was neue demokratische Prozesse und Strukturen angeht.» Bereits in drei bis fünf Jahren werde sich eine ganz neue Form von Demokratie etabliert haben, und zwar dank der Möglichkeiten der KI. Bislang sei das Science-Fiction gewesen, von dieser «Komplexitätsreduktion» habe er immer geträumt: ein persönlicher Demokratie-Assistent, der mich auf wichtige Themen aufmerksam macht, laufende Debatten zusammenfasst und Fragen beantwortet – auch zu Abstimmungen und Wahlen. Und auch die Möglichkeit bietet, mich mit anderen Menschen darüber auszutauschen und sich an politischen Projekten wie Initiativen und Referenden zu beteiligen. Dank dieser Demokratie-KI könnte der Austausch mit vielen Menschen und mehr Teilhabe tatsächlich funktionieren, ohne überfordernd zu sein, glaubt Graf.
Vertrauen ist zentral
Wird es also bald keine Parteien mehr geben? Oder zumindest einen «grossen Unterschied wie Parteien organisiert sind»? Was Graf vorschwebt, ist durchaus ein partizipatives Ideal: «mehr Menschen im Austausch», und zwar in allen Richtungen, vom Politiker zur Bürgerin, und auch wieder zurück. Wobei, schiebt er noch nach, mittelfristig könnte das auch eher ein Modell sein für Organisationen und insbesondere für bestehende Online-Communities: Nicht mehr das gute alte: «wir wählen einen Vorstand», sondern ein digitales Modell, das die Schwierigkeiten von «Liquid Democracy» überwindet. Pat Mächler ist da indessen eher vorsichtig. «Die Demokratie ist nicht gerettet, einfach indem man ‘Liquid Democracy’ einführt.» Aber das Aufbrechen der alten politischen Delegationslogiken hält Mächler nach wie vor für wertvoll, das führe auf jeden Fall zu grösserer politischer Transparenz. Flüssigere Demokratien können helfen, «Vertrauensinfrastruktur sichtbar zu machen.» Und dieses Vertrauen ist auch für Graf der zentrale Punkt. «Wollen wir eine inklusive, barrierefreie Demokratie, welche die Macht besser verteilt? Die Alternative ist ein diktatorischer, digitaler Überwachungsstaat – wie er sich in China und Russland zeigt.»