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11.06.2025 von Katharina Wehrli

Stillstand ist keine Lösung

Wie lässt sich eine Demokratie stärken? Beispielsweise indem sie weiterentwickelt wird. Ansonsten kann das politische System der Gesellschaft, die sich laufend ­verändert, nicht mehr gerecht werden. Wo aber hat die Schweizer Demokratie heute Reformbedarf?

Artikel in Thema Demokratie stärken
Illustration: Claudine Etter

Eine Demokratie lebt davon, dass sich die Bevölkerung in ihrer ganzen Vielfalt von der Politik verstanden und vertreten fühlt. Die Wählenden und Stimmenden müssen darauf vertrauen können, dass die politischen Amtsträgerinnen und -träger ihre Sorgen und Bedürfnisse ernst nehmen und sich um Lösungen für drängende gesellschaftliche Probleme bemühen. Umgekehrt braucht das politische System eine aktive Bevölkerung, die willens und in der Lage ist, mitzuwirken. Da sich die Gesellschaft aber laufend verändert, besteht die Gefahr, dass das politische System ihr nicht mehr gerecht wird. Dann braucht es politische Reformen. Bestes Beispiel dafür ist die Einführung des Frauenstimmrechts 1971. Wo aber besteht heute Reformbedarf? Wie kann die Schweizer Demokratie weiterentwickelt werden, damit sie lebendig und stark bleibt? 

Modernisierung des Bürgerrechts
Ein grosses Manko besteht heute bei der politischen Mitsprache der ausländischen Wohnbevölkerung: Wer keinen Schweizer Pass hat, ist von Wahlen und Abstimmungen ausgeschlossen. Daniel Kübler, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Zürich und Direktionsvorsitzender des Zentrums für Demokratie Aarau, erklärt: «Die Schweiz ist sehr stolz auf ihre direkte Demokratie und dass scheinbar alle mitwirken können. Für einen Viertel der Wohnbevölkerung gilt das aber nicht, und das ist mehr als ein Schönheitsfehler.» Zwar gewähren einzelne Gemeinden und Kantone ein so­genanntes Ausländerstimmrecht, aber auf nationaler Ebene fehlt eine entsprechende Regelung. In Kombination mit den restriktiven Einbürgerungsbestimmungen mache dies die Schweizer Demokratie zu einem wenig inklusiven System, erklärt der Politikwissenschaftler.
Das will die zivilgesellschaftliche Aktion Vierviertel ändern und hat die sogenannte Demokratie-Initiative lanciert. Diese sieht eine Modernisierung des Bürgerrechts vor, wie Mitinitiantin und Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone erklärt. Alle Menschen, die in der Schweiz leben, sollen nach fünf Jahren ein Grundrecht auf Einbürgerung erhalten. Dabei geht es um Gerechtigkeit gegenüber der ausländischen Wohnbevölkerung und um eine Anerkennung der Realität in der Schweiz. So betont Mazzone: «Wir leben zusammen, wir arbeiten zusammen, die Kinder gehen zusammen in die Schule. Deswegen ist es wichtig, dass auch alle mitentscheiden dürfen.»

Junge früher einbeziehen
Auch beim Einbezug der Jungen ins politische System sieht Lisa Mazzone Reformbedarf. Sie setzt sich für eine Senkung des aktiven Stimmrechts auf 16 Jahre ein. Das hätte zur Folge, dass die Bevölkerung insgesamt besser vertreten wird. Zudem zeigen Studien, wie Mazzone erklärt, dass sich ein früher Einbezug ins politische System positiv auf die politische Mitwirkung auswirkt. 
Die Erweiterung der politischen Rechte auf die ausländische Wohnbevölkerung und auf junge Menschen würde die Basis des politischen Systems verbreitern und stärken. Entsprechende Vorstösse haben in der Schweiz aber einen schweren Stand. Nur gerade in einem Kanton (Glarus) gilt das aktive Stimmrecht ab 16 Jahren. Auf nationaler Ebene wurde eine entsprechende parlamentarische Initiative nach längerem Hin und Her im Frühjahr 2024 abgeschrieben. Die Demokratie-Initiative hingegen wurde noch nicht vom Parlament behandelt. Der Bundesrat hat sich aber vor Kurzem damit befasst und sie ohne Gegenvorschlag abgelehnt. Wie Parlament und Bevölkerung der Idee gegenüberstehen, wird sich zeigen müssen. 

Übergewicht der ländlichen Regionen
Ganz grundsätzlich ist die politische Schweiz nicht besonders reformfreudig. Politikwissenschaftler Daniel Kübler spricht gar von einer «Reformresistenz»: «Das System ist darauf angelegt, dass es sehr langsam funktioniert und sich auch sehr langsam ändert.» ­Exemplarisch zeigt sich dies beim Ständemehr und beim Ständerat: Beides wurde bei der Gründung des Bundesstaates 1848 festgelegt, um den im Sonderbundskrieg unterlegenen, katholischen Kantonen entgegenzukommen und sie in den neuen, liberalen Bundesstaat zu integrieren. Heute spielen die konfessionellen Unterschiede politisch fast keine Rolle mehr, und das politische Gewicht der einzelnen Kantone entspricht immer weniger der Bevölkerungsstruktur der Schweiz. Da kleine und grosse Kantone im Ständerat und für die Berechnung des Ständemehrs aber gleich vertreten sind, führt dies dazu, dass die kleinen Kantone übermässig viel Einfluss haben: So hat beispielsweise die Stimme einer Urnerin 40-mal mehr Gewicht als jene einer Zürcherin.
Immer wieder gab es Vorschläge, Ständemehr und Ständerat zu reformieren und den Städten oder bevölkerungsreichen Kantonen mehr Gewicht zu geben. Das Problem ist nur, dass der Föderalismus diesbezüglich eine Einbahnstrasse ist, wie es Daniel Kübler sagt, denn: «Das System gibt den potenziellen Verlierern ein starkes Gewicht, ohne ihr Einverständnis kann man es nicht umbauen. Und man wird die kleinen Bergkantone nie davon überzeugen können, ihr Gewicht im Ständemehr oder im Ständerat zu reduzieren.» 

Druck aus der Bevölkerung
Wenn im politischen System der Schweiz Veränderungen nahezu unmöglich scheinen, wie lässt sich die Demokratie trotzdem weiterentwickeln? Mit Druck aus der Bevölkerung, ist SP-Nationalrätin Nadine Masshardt überzeugt. «Dank Initiativen wie jener zur Transparenz kann der Druck aus dem Volk erhöht werden. So gelingt es doch ab und zu, entweder einen griffigen Gegenvorschlag zu einem Reformanliegen zu machen oder zumindest das Thema in einer breiten Öffentlichkeit zu diskutieren.» Die von Masshardt angesprochene Transparenz-Initiative ist eines der seltenen Beispiele für ein erfolgreiches Reformvorhaben der letzten Jahre. Nach langen, zähen Diskussionen um die von links-grüner Seite vorgebrachte Forderung, die Politikfinanzierung transparenter zu gestalten, stimmten National- und Ständerat 2021 einem Gegenvorschlag zur Transparenz-Initiative zu. 

«Für das Vertrauen in die Demokratie ist essenziell, dass transparent ist, wer Zugriff auf ­die Entscheidungsträgerinnen und -träger hat.»


Einfluss von Lobbys sichtbar machen
Obwohl das neue Transparenz-Gesetz zu wenig weit geht (siehe dazu das Interview mit Michel Huissoud in dieser Ausgabe), ist es ein Gewinn für die Demokratie, wie Masshardt hervorhebt: «Wir Bürgerinnen und Bürger erkennen besser, welche grossen Geldgeberinnen und Geldgeber, Verbände oder Lobbys hinter welchen Abstimmungsvorlagen stehen. Aber es gibt noch viel zu tun», schliesst die Berner Nationalrätin. So ist heute beispielsweise oft intransparent, wie Lobbys auf die Entstehung eines Gesetzes Einfluss nehmen. Hier Transparenz zu schaffen, sei wichtig, betont auch Balz Oertli, Journalist beim Recherchekollektiv WAV und Vorstandsmitglied der Non-Profit-Organisation Lobbywatch: «Gerade für das Vertrauen in die Demokratie ist essenziell, dass transparent ist, wer Zugriff auf Entscheidungsträgerinnen und -träger hat.» Lobbywatch fordert deshalb ein öffentlich einsehbares Register, in das sich alle Lobbyistinnen und Lobbyisten eintragen müssten, die Zugang zum Parlament haben. 

Selbstdeklaration genügt nicht
Auch bei den Mandaten der Parlamentsmitglieder herrscht Reformbedarf. Mitglieder von National- und Ständerat müssen zwar ihre Mandate bei Unternehmen und Verbänden offenlegen, aber nicht, wie viel sie damit verdienen. Zudem beruhen ihre Angaben ausschliesslich auf Selbstdeklaration und werden von den Behörden nicht kontrolliert, wie Balz Oertli erklärt. Dieses Manko versucht das Lobbywatch-Team zu beheben, indem es die Interessenbindungen von Parlamentsmitgliedern recherchiert und der Öffentlichkeit im Internet zur Verfügung stellt. «Wir grasen in Handarbeit das Internet ab, um herauszufinden, welche Parlamentarierinnen und Parlamentarier in welchen Vorständen sind», erklärt der Recherche-Journalist. Immer wieder finde das Team von Lobbywatch undeklarierte Mandate, zum Teil belanglose, zum Teil solche, mit denen die Parlamentarierinnen und Parlamentarier wohl Zehn­tausende Franken verdienten, so Oertli weiter. Deshalb fordert Lobbywatch, dass die Angaben der Parlamentsmitglieder über ihre ­Mandate bei Unternehmen und Verbänden von den Behörden kon­trolliert werden müssen. 

Und wer zahlts?
Das führt zur grundsätzlichen Frage, wie eigentlich Politik finanziert sein soll. International gesehen ist die Schweiz eine grosse Ausnahme: In den meisten europäischen Demokratien bekommen die Parteien etwa fünfzig Prozent ihres Budgets vom Staat. Hierzulande existiert hingegen fast keine staatliche Parteienfinanzierung, obwohl die Schweiz mit den viermal jährlich stattfindenden Abstimmungen einen aussergewöhnlich teuren Politikbetrieb hat. Da die Parteien selbst nur relativ wenig Geld zur Verfügung haben, sind sie auf die Finanzierung durch Dritte angewiesen. So zeigen die Transparenz-Daten laut Balz Oertli ein logisches Bild: «Bei den Linken sind es die Gewerkschaften und Umweltverbände und bei den Rechten die Wirtschafts- und Arbeitgeberorganisationen, welche die Politik finanzieren.» Dass die Politik heute zu fast 100 Prozent von Dritten finanziert werde, sei aber per se etwas, das misstrauisch mache, fährt Oertli fort. Deshalb ist das Vorstandsmitglied von Lobbywatch überzeugt, dass die Schweiz nicht darum herumkomme, eine vertiefte Diskussion über eine staatliche Politikfinanzierung zu führen: «Das wird vielleicht eine schmerzhafte Diskussion, denn sie rüttelt am Milizparlament und am spezifisch schweizerischen Verständnis der Demokratie. Aber sie muss stattfinden.» 

Die Grenzen des Milizsystems
Auch Daniel Kübler ist der Ansicht, dass es mehr staatliche Po­litikfinanzierung braucht. Reformbedarf sieht der Politikwissenschaftler etwa bei der Entlöhnung der Parlamentsmitglieder. Diese ist vor allem in den Kantonen und Gemeinden relativ tief, was dazu führt, dass Parlamentarierinnen und Parlamentarier meist offen sind für bezahlte Zusatzmandate von Wirtschaft und Verbänden. Auch die fachliche Unterstützung von Lobbys ist für Parlaments- und Behördenmitglieder attraktiv, wenn ihnen selbst nicht genug Zeit zur Verfügung steht, sich in die oft komplexen Sachgeschäfte einzuarbeiten. «Das Milizsystem stösst hier an Grenzen», erklärt Kübler. «Wenn man Politikerinnen und Politiker so knapphält und mit so wenig Ressourcen ausstattet, wie das heute der Fall ist, dann muss man sich nicht wundern, wenn sie sich von Lobbys beeinflussen lassen.» Deshalb spricht sich Kübler für eine Professionalisierung der politischen Arbeit aus. Eine bessere Entlöhnung und mehr Unterstützung (etwa in Form einer staatlich finanzierten fachlichen Assistenz) könnten sicherstellen, dass die Amtsträgerinnen und -träger wirklich das tun können, wofür sie gewählt sind: sich vertieft mit Sachgeschäften auseinandersetzen, sich eine unabhängige Meinung bilden und diese vertreten – anstatt, wie das heute oft der Fall ist, auf Vorschläge zurückzugreifen, die von Lobbys vorbereitet wurden. 

Eine Professionalisierung der politischen Arbeit würde unser demokratisches System gerechter machen.


Mehr Vielfalt in den Parlamenten
Eine Professionalisierung der politischen Arbeit könnte auch bewirken, dass unsere Parlamente vielfältiger werden. Denn: Sich politisch zu engagieren, ist heute ein Privileg, das nicht alle haben. Ein politisches Mandat innezuhaben, braucht Zeit – und damit Geld. Wer Einsitz nimmt in ein Parlament oder eine Gemeindebehörde, muss dafür in der Regel die Erwerbstätigkeit reduzieren. Dies ist aber mit Lohneinbussen verbunden, die nur begrenzt durch die Entlöhnung des politischen Amts kompensiert werden. Menschen mit tiefen Einkommen oder Eltern, die wegen der Kinderbetreuung häufig Teilzeit arbeiten – was vor allem Mütter betrifft –, können sich das nicht leisten. Dieser Ausschlussmechanismus ist ein wichtiger Grund dafür, dass Frauen auch ein halbes Jahrhundert nach Einführung des Frauenstimmrechts auf allen staatlichen Ebenen weiterhin unterrepräsentiert sind. Dasselbe gilt für Menschen mit tiefen Einkommen: Auch sie sind in den Parlamenten untervertreten. Auch aus Gründen der Chancengleichheit wäre eine Reform des Milizsystems deshalb dringend angezeigt. Eine Professionalisierung der politischen Arbeit würde unser demokratisches System gerechter machen und dafür sorgen, dass alle Bevölkerungsgruppen eine Chance auf politische Mitwirkung haben.
Ganz generell täte die Schweiz gut daran, ihr demokratisches System zu überdenken und weiterzuentwickeln, um das Vertrauen der Bevölkerung zu stärken und die Demokratie lebendiger, breiter abgestützt und widerstandsfähiger zu machen – und damit fit für die Zukunft. Oder mit den Worten von Nationalrätin Nadine Masshardt: «Unsere Demokratie hat sich in der Geschichte immer weiterentwickelt. Stillstand ist keine Lösung.» 


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