Lokaljournalismus hat heute einen schweren Stand. Zahlreiche Lokalzeitungen sind in den vergangenen Jahrzehnten verschwunden oder stehen derart unter Spardruck, dass sie ihre Berichterstattung einschränken müssen. Nicht so «Tsüri»: Das unabhängige Online-Stadtmagazin für Zürich trotzt seit zehn Jahren diesem Trend. «Tsüri» richtet sich an ein junges Publikum (mehrheitlich zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt) und berichtet täglich über das Stadtgeschehen. Der Fokus liegt auf Wohnen, Politik, Klima, Stadtleben und seit neustem Kultur. Die Inhalte von «Tsüri» sind alle kostenlos zugänglich. Das gilt auch für den täglichen Newsletter, der an über 20 000 Leserinnen und Leser verschickt wird, und die verschiedenen wöchentlichen Newsletter. Dazu gehört beispielsweise das «Gemeinderats-Briefing», das die Debatten im Zürcher Gemeinderat zusammenfasst und erklärt. «Tsüri» wächst kontinuierlich und steht, wie Gründungsmitglied Simon Jacoby gegenüber moneta erklärt, seit rund zwei Jahren finanziell sehr gut da. Wie ist das möglich?
Grosses Bedürfnis nach frischem Lokaljournalismus
Am Anfang stand ein zusammengewürfeltes Grüppchen junger Menschen, die in den Journalismus einsteigen wollten, erzählt Jacoby im Redaktionsbüro von «Tsüri». Dieses ist seit Kurzem in einer ehemaligen Verpackungsfabrik in Zürich-Altstetten untergebracht. «Wir wollten damals zwei Dinge herausfinden», beschreibt der heutige Chefredaktor und Co-Geschäftsleiter die Motivation des Gründungsteams vor zehn Jahren. «Ist es möglich, Lokaljournalismus rein digital zu machen? Und können wir ein junges Zielpublikum für politische Themen interessieren?» Damals, noch vor Beginn der Klimastreik-Bewegung, hiess es nämlich, dass junge Leute sich nicht (mehr) für Politik interessieren würden. Jacoby und seine Mitstreiterinnen und -streiter überzeugte das nicht.
So startete die Gruppe praktisch ohne journalistische Erfahrung 2015 ein neues Online-Stadtmagazin. «Wir hatten keine Rechtsform, keine interne Struktur, kein Geschäftsmodell, sondern gingen einfach drauflos – mit einer selbst gebastelten Website, einem Google-Drive-Ordner und einer Facebook-Page, sonst nichts», erzählt Jacoby, der an der Universität Zürich Politikwissenschaft und Publizistik studiert hat. Das Projekt war zunächst ehrenamtlich und auf zwei Jahre angelegt. Schnell wurde aber klar, dass das Bedürfnis für einen frischen Lokaljournalismus sehr gross war: Statt der erwarteten 2000 besuchten im ersten Monat 25 000 Menschen die neue Website. Deshalb folgte rasch der Entscheid, das Projekt langfristig auszurichten.
Journalismus als öffentliches Gut
Die Gruppe entwickelte ein Geschäftsmodell mit zwei Einnahmequellen: Werbung und freiwillige Mitgliederbeiträge. Die journalistischen Inhalte selbst sollten kostenlos und damit für alle zugänglich sein. Bei diesem Entscheid ging es um Reichweite, aber auch um die Überzeugung, dass Journalismus ein öffentliches Gut sei, wie auf der Website von «Tsüri» steht. Simon Jacoby ergänzt: «Alle Menschen müssen auf demokratierelevante Informationen zugreifen können, egal, ob sie dafür zahlen können oder nicht.»
Die Suche nach dem notwendigen Startkapital war schwierig, denn damals herrschte grosser Pessimismus in der Branche. Letztlich gelang es dem Gründerteam, im eigenen Umfeld die nötigen Mittel zu sammeln. Das Team konnte loslegen und das neue Online-Magazin aufbauen. Allerdings blieben die Mittel stets knapp: «Wir fuhren lange einfach auf Sicht», erzählt Jacoby. Allmählich wurde klar, dass es neben den Werbeeinnahmen und den Mitgliederbeiträgen ein drittes finanzielles Standbein brauchte.
Beteiligung des Innovationsfonds
Die Gruppe entschied, zusätzlich auf Einnahmen aus Community-Veranstaltungen zu setzen, und entwickelte das Konzept «Civic Media»: Mit Podiumsdiskussionen, Stadtspaziergängen oder Workshops sollten lokale Themen und Debatten wie Wohnen, Mobilität oder Kreislaufwirtschaft näher an die Stadtbewohnerinnen und -bewohner gebracht werden. Das «Tsüri»-Team hoffte, so nicht nur mehr Einnahmen zu generieren (vor allem durch Sponsorenbeiträge), sondern auch die Wirkung der eigenen journalistischen Arbeit zu steigern.
Mit dem Projekt «Civic Media» als zusätzlichem Teil des Geschäftskonzepts ging das Gründerteam zum zweiten Mal auf Kapitalsuche. Dabei gelangte es unter anderem an den Innovationsfonds der Alternativen Bank Schweiz (ABS). Bereits zuvor war das junge Unternehmen als Geschäftskunde mit der ABS verbunden gewesen. «Es war von Anfang an klar, dass wir zur ABS wollten», erzählt Jacoby, «die Werte der Bank passen zu uns.» Auch betont er, wie sehr er den persönlichen Kontakt zur ABS schätze: «Ich habe nie das Gefühl, dass ich mit einem anonymen Unternehmen telefoniere, wenn ich etwas brauche.» Der Innovationsfonds beteiligte sich in der zweiten Finanzierungsphase mit 50 000 Franken am Unternehmen. «Das half uns sehr, auch für die Glaubwürdigkeit», erinnert sich Jacoby. «Wir waren damals mit verschiedenen Leuten im Gespräch. Nachdem der Innovationsfonds das Geld gesprochen hatte, sagten auch alle anderen zu.»
Ein Rezept auch für andere Städte?
Seit 2018 ist das Veranstaltungskonzept «Civic Media» realisiert und erfolgreich – finanziell, aber auch, was die erhoffte Wirkung betrifft. «Wenn wir beispielsweise Stadtspaziergänge machen und verschiedene Kreislaufunternehmen besuchen, dann löst das bei den Teilnehmenden viel mehr aus, als wenn ein Journalist einen Artikel darüber schreibt», erklärt Jacoby. Heute steht «Tsüri» finanziell so gut da wie noch nie: mit stabilen Einnahmen, ohne Schulden und mit Fördermitteln für zwei Jahre vom international tätigen Media Forward Fund. Das erlaubt, weitere Projekte anzugehen: So hat das Unternehmen zusammen mit dem Winterthurer Verein für Medienvielfalt und der Unterstützung einer Stiftung vor Kurzem «WNTI» lanciert, ein digitales Stadtmagazin für Winterthur.
Bedeutet das, dass Jacoby und seine Kolleginnen und Kollegen das Rezept gefunden haben, wie man zukunftsfähigen Lokaljournalismus machen kann? «Wir haben sicher ein Rezept gefunden», antwortet der Chefredaktor von «Tsüri». Wenn man die drei Einnahmequellen – Werbung, Mitgliederbeiträge, Veranstaltungen – konsequent verfolge, könne es funktionieren, erklärt er. «Zumindest in Städten oder Ballungszentren, die so gross wie Zürich sind.» Das neue Magazin «WNTI» wird zeigen, ob das Geschäftsmodell auch in einer Stadt wie Winterthur mit 100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern aufgeht. Dann liesse es sich auf weitere Orte übertragen. Zwar gibt es in einzelnen Städten wie Bern und Basel bereits digitale Stadtmagazine. Aber andernorts bestehe ein grosses Bedürfnis, weiss Jacoby. «Schon viele Leute haben uns geschrieben und gefragt: Wann gibt es ein solches Angebot auch bei uns?» Das grösste Problem sieht er in der mangelnden journalistischen Abdeckung in den ländlichen Regionen: «Dort sehe ich keinen Weg, wie Journalismus sich selbst finanzieren kann. Da muss der Staat die lokalen Medien fördern», ist der Unternehmer überzeugt: «Auch wenn Journalismus nicht rentiert, wir brauchen ihn als Gesellschaft trotzdem.»
Lokale Themen machen den Unterschied
Und welche Zukunft sieht Jacoby, der 2024 als Lokaljournalist des Jahres ausgezeichnet wurde, für «Tsüri»? «Wir wollen die grösste Lokalredaktion der Stadt werden.» Auch inhaltliche Ausbaumöglichkeiten sieht er einige: Bislang fehlen Wirtschaft und Finanzen sowie Sport gänzlich in der Berichterstattung von «Tsüri». Für Jacoby ist, wie er sagt, Lokaljournalismus die Königsdisziplin des Journalismus und als solche auch wichtig für die Demokratie. Denn ohne Journalismus greift die Desinformation stärker, und die Beteiligung an den demokratischen Prozessen sinkt. Das zeigen auch Studien. Natürlich brauche es deswegen auch Journalismus auf internationaler und nationaler Ebene, betont der Gründer von «Tsüri»: «Aber das, was im Alltag oft den Unterschied macht, sind lokale Themen.»