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14.09.2022 von Stefan Boss

Ein Green Deal für die Erde – sozialverträglich

In seinem neuen Bericht fordert der Club of Rome die Industriestaaten zu riesigen Investitionen in erneuerbare Energien auf. Und er will den Kampf gegen die Klimakrise mit dem Kampf gegen die Armut verbinden.

Artikel in Thema Abschied vom Wachstum
Illustration: Claudine Etter

50 Jahre nach dem Erscheinen seines bahnbrechenden Buchs «Die Grenzen des Wachstums» setzt der Club of Rome selbst auf Wachstum: zumindest für die armen Länder und für die erneuerbare Energie. So soll der Internationale Währungsfonds (IWF) den armen Staaten eine Billion Dollar für Investitionen in saubere Energie und nachhaltige Nahrungsmittel zur Verfügung stellen. Und dies pro Jahr, wie es auf der Website des neuen Berichts «Earth for all» heisst! Damit will man die extreme Armut bekämpfen.

 

Erneuerbare Energien ausbauen und Ungleichheit bekämpfen

 

Auch für den IWF ist das eine erkleckliche Summe. Zum Vergleich: Die Industriestaaten haben an UNO-Klimakonferenzen versprochen, den armen Ländern pro Jahr 100 Milliarden Dollar – also ein Zehntel davon – für Klimahilfe zur Verfügung zu stellen. Und dieses Geld ist bisher noch nicht zusammengekommen. Darüber hinaus sollen die Industrie- und Schwellenstaaten laut dem Club of Rome erhebliche Mittel in den Ausbau der erneuerbaren Energie in ihren eigenen Ländern stecken. Der Bericht geht davon aus, dass pro Jahr insgesamt etwa 2 bis 4 Prozent des globalen Bruttoinlandprodukts für eine nachhaltige Energie- und Ernährungssicherheit aufgewendet werden müssen. Und er fordert einen raschen Ausstieg aus der fossilen Energie.

 

Es sind solche konkreten Handlungsempfehlungen an die Politik, die den Report auszeichnen. Geht es um eine Art Green Deal für die Welt, wie ihn die EU mit einem gewaltigen Investitionsprogramm für Europa schon vorgezeichnet hat? «Unser Programm geht darüber hinaus», sagt Sandrine Dixson-Declève, Co-Präsidentin des Club of Rome, kurz vor der Publikation von «Earth for All» im Videogespräch. «Was wir brauchen, ist ein sozialverträglicher Green Deal. Die Menschen müssen aus der Armut gebracht werden, Frauen müssen weltweit mehr Rechte erhalten», betont die belgische Energie- und Businessexpertin. So will der neue Bericht, an dem Dixson als Co-Autorin mitgewirkt hat, unter anderem die Ungleichheit durch Steuererhöhungen für die 10 Prozent der Reichsten eines Landes und eine vollständige Gleichstellung der Geschlechter erreichen. Durch einen besseren Zugang von Frauen zu Bildung hofft man, die Weltbevölkerung bis 2050 bei 9 Milliarden zu stabilisieren.

 

Jetzt braucht es «einen Riesensprung»

 

Stark ist der neue Bericht «Earth for all – ein Survivalguide für unseren Planeten», den wir kurz vor Redaktionsschluss noch einsehen konnten, zum Beispiel dort, wo er konkrete Szenarien vergleicht. So gibt es ein Szenario der kleinen Schritte («Too Little Too Late»), die jedoch nicht ausreichen, um grosse soziale Verwerfungen und gefährliche Auswirkungen der der Klimaerhitzung zu verhindern. Laut den Autorinnen und Autoren braucht es einen tiefgreifenden und unverzüglichen Wandel, einen Riesensprung («Giant Leap»), um das Leben auf der Erde wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Deshalb sind auch solche riesigen Investitionen in erneuerbare Energie und in eine nachhaltige Ernährung notwendig. Die Anstrengungen seien grösser als der Marshallplan für den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg und die Mondlandung zusammen, ein «Vielfaches davon», heisst es im Bericht.

 

Wer angesichts dieser Herkulesaufgabe die Hände verwirft und denkt, dass dies politisch nicht durchsetzbar sei, unterschätzt laut dem Club of Rome die Bereitschaft der Bevölkerung zum Wandel. So befürwortet gemäss einer Umfrage ein grosser Teil der Menschen auch in den Industriestaaten ein rasches Umdenken: 74 Prozent der Befragten in G-20-Staaten unterstützen eine Transformation des ökonomischen Systems für mehr «Wohlergehen, Gesundheit und Schutz des Planeten». Sandrine Dixson redet wiederholt von einem «kaputten Wirtschaftssystem», das es umzugestalten gelte. «In der Zeit der Corona-Pandemie haben wir gesehen, dass eine Transformation möglich ist. Die Menschen mussten auf staatliche Autoritäten hören und auf einmal Masken tragen.» Es sei das erste Mal seit langem, dass die Menschen in den Industriestaaten ihr Leben völlig umgestalten mussten. Für die nun notwendige Umstrukturierung des ökonomischen Systems möchte der Club of Rome an diesen Erfahrungen anknüpfen, wie Dixson betont.

 

Breites Netzwerk hinter dem Bericht

 

Im Unterschied zum Bericht vor 50 Jahren ist der neue Report viel breiter abgestützt. So waren auch Fachleute der Norwegischen Business School, des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und des Stockholm Resiliance Center beteiligt und schlossen sich unter dem Label «Earth for All» zusammen; neben Vertreterinnen und Vertretern exakter Wissenschaften gehören auch solche aus den Sozialwissenschaften sowie Expertinnen und Experten aus den Ländern des Südens dazu. Auch stammt mit Mamphela Ramphele die zweite Co-Präsidentin des Club of Rome aus Südafrika.  

 

Methodisch stützt sich der Bericht auf neue Ansätze in der Ökonomie, zum Beispiel auf das sogenannte Donut-Modell von Kate Raworth, das davon ausgeht, dass es klare planetare (und soziale) Grenzen gibt. Der Bericht postuliert ein sogenanntes Wohlergehens-Modell («Wellbeing Model»), welches das Bruttoinlandsprodukt nicht als einziges Mass für den menschlichen Fortschritt versteht und zum Beispiel der Natur und der Care-Arbeit einen Wert zumisst. Laut Dixson handelt es sich um ein «neues Denken, das nicht nur auf Produktion und Rohstoffgewinnung als Mass für die menschliche Entwicklung setzt». Als Vorbilder für dieses Modell nennt der Bericht Finnland, Island, Neuseeland, Schottland und Wales. Die Schweiz wird nirgends explizit erwähnt, sie hat nach dem Nein zum CO2-Gesetz im letzten Jahr ja nicht einmal ihre Hausaufgaben beim Klimaschutz gemacht.   

 

Und die politische Durchsetzung?

 

Bleibt die grosse Frage, wie der neue Bericht seine Forderungen an die Politik durchsetzen will. Interessant ist, dass man auf die Einberufung von Bürgerversammlungen setzt, wie dies schon der Klimastreik gefordert hatte. Die Idee dahinter ist, dass per Los ausgewählte Bürgerinnen und Bürger eher bereit sind, griffige Massnahmen für den Klimaschutz vorzuschlagen, als dies Parlamentarierinnen und Parlamentarier tun. In der Schweiz ist jedoch ein Vorstoss von Balthasar Glättli (Grüne) für die Schaffung eines solchen Klimarats letztes Jahr im Parlament klar gescheitert, wie beispielsweise das Magazin von «Pro Natura» berichtete. In Frankreich schlug eine nationale Bürgerversammlung konkrete Massnahmen vor, Präsident Macron hielt aber nicht Wort und nahm ihre Vorschläge grösstenteils nicht auf.

 

Zwar verzichtet der 250 Seiten starke Report «Earth for All» nicht ganz auf Fachjargon, generell ist er aber recht anschaulich geschrieben. Er erschien Anfang September auf Deutsch und wird bald auch auf Englisch (sowie Chinesisch und Japanisch) vorliegen. Hoffentlich erfolgt in Kürze eine Übersetzung auf Französisch und in weitere Sprachen! Ob er ein Bestseller wird wie sein Vorgänger vor 50 Jahren, muss sich weisen. Zu wünschen ist es ihm, denn laut den Autorinnen und Autoren befinden wir uns zwischen 2020 und 2030 im «entscheidenden Jahrzehnt», um das Wirtschaftssystem umzustellen und die ökologische Wende zu schaffen.

Von Rom bis Winterthur

Gegründet wurde der Thinktank Club of Rome 1968 durch den italienischen Industriellen Aurelio Peccei und den schottischen Chemiker Alexander King. Namensprägend war, dass eines der ersten Treffen in Rom stattfand. Spätere Publikationen konnten nicht mehr an den 1972 erschienen Beststeller «Die Grenzen des Wachstums» anknüpfen. Der Club kommt einmal pro Jahr zusammen und zählt rund 100 Mitglieder aus Wissenschaft und Wirtschaft. Es sind auch Schweizer dabei, unter anderem Mathis Wackernagel (Mitbegründer des ökologischen Fussabdrucks), Reto Ringger (Leiter Globalance Bank) und André Hoffmann (Vizepräsident Roche-Gruppe). Das Sekretariat des Club of Rome befindet sich seit 2008 in Winterthur. Im Gespräch war damals auch eine Ansiedlung in der Stadt Zürich, aber die dortigen Stimmberechtigten verweigerten einen entsprechenden Kredit.  

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