58
29.09.2025 von Roland Fischer

Kläranlagen – eine Erfolgsgeschichte?

Die Schweiz ist international bekannt für ihre sauberen Flüsse und Seen. Das war nicht immer so: Bis weit ins 20. Jahrhundert gelangten Abwässer von Siedlungen und Industrie ungeklärt in die Umwelt. Erst mit dem Gewässerschutzgesetz von 1955 begann die Erfolgsgeschichte der Kläranlagen. Diese stehen heute allerdings vor neuen Heraus­forderungen. 

Artikel in Thema Wasser
Illustration: Claudine Etter

Gewässerschutz – das Wort kann zweierlei bedeuten. Meint man damit den Schutz vor Gewässern oder den Schutz der Gewässer? Tatsächlich erzählt die Geschichte des Gewässerschutzes in der Schweiz genau diese Doppeldeutigkeit nach. In der ersten Phase – vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – bezog sich der Schutz eher auf uns als auf die Gewässer. Man investierte viel Geld in Wildbachver­bauungen, Flusskorrekturen und Seeregulierungen. Wie es den Gewässern selber ging, spielte dabei weniger eine Rolle, sie mussten buchstäblich immer mehr schlucken. Das Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum sorgte dafür, dass immer mehr Abfälle, chemische Schadstoffe aus der Industrie und ungeklärte Abwasser in Flüsse und Seen gelangten. Denn Abwasserbehandlung hiess lange einfach die geordnete Ableitung des Abwassers in Kanäle. Getreu dem Motto: aus den Augen, aus dem Sinn. Die simple Methode stank bald zum Himmel, das Abwassersystem geriet ein erstes Mal in die Krise: Die besser Verdienenden zogen in die Villenvororte, während Unterschichten nachrückten. Bald forderten Ärzte, Stadtplaner und Architekten eine «Kloakenreform». So hiess es in einer ETH-Doktorarbeit «über die Abwasserverhältnisse von Zürich» von 1934: «Die Industrialisierung eines Landes ist gleichbedeutend mit der Anhäufung grosser Menschenmassen in Städten und ganzen Bezirken. Daraus erwachsen Schwierigkeiten sowohl bezüglich der Wasserversorgung als auch bezüglich der Abstossung des verbrauchten Wassers, also des Abwassers, in die natürlichen Vorfluter (Flüsse, Seen und Teiche) mit den bekannten Folgen für die Gewässer.»

Die Fischer machen Druck
Es waren aber vor allem die Fischer, die sich gegen die üblen Zustände wehrten, bevor sie ins allgemeine Bewusstsein drangen. Sie bewirkten, dass im ersten Fischereigesetz von 1888 verboten wurde, «in Fischgewässern Fabrikabgänge oder andere Stoffe von solcher Beschaffenheit und in solchen Mengen einzuwerfen oder einfliessen zu lassen, dass dadurch der Fisch- und Krebsbestand geschädigt wird». Tatsächlich bildete diese Bestimmung während fast siebzig Jahren die einzige gesetzliche Grundlage gegen Gewässerverunreinigungen – und war einigermassen zahnlos. 1933 wurden die Fischer wieder laut: Sie forderten vom Bund Massnahmen gegen die zu­nehmende Wasserverschmutzung und eine Beratungsstelle für Abwasserreinigung. Man war inzwischen zur Erkenntnis gelangt, dass Prävention allein das Problem nicht würde lösen können. Doch Fachleute für die Planung und den Bau von Kläranlagen gab es in der Schweiz keine, die Pionieranlagen standen in Grossbritannien und in Deutschland. Es war die Geburtsstunde der Eawag: Die ETH Zürich gründete 1936 eine Beratungsstelle für Abwasserreinigung und Trinkwasserversorgung.

Strengere Vorschriften dank wachsendem Umweltbewusstsein
Erst 1955 erliess das Parlament das erste Gewässerschutzgesetz und gab dem Bund damit die Kompetenz, die Schweizer Gewässer vor Verunreinigungen zu schützen. Doch auch dieses Gesetz veränderte zunächst wenig, 1963 waren erst 14 Prozent der Schweizer Bevölkerung ans Abwassersystem angeschlossen. Schäumende und stinkende Bäche, Fischsterben, Abfälle in Fliessgewässern und Seen waren an der Tagesordnung. Baden? War aus gesundheitlichen Gründen weitgehend verboten. Wirklich wirksam wurde der Schutz erst nach der ersten Revision von Gesetz und Verordnung im Jahr 1972, nun war endlich auch die Möglichkeit vorgesehen, den Bau von Kläranlagen zu subventionieren. Was auch in grossem Stil in Anspruch genommen wurde: Bis 1992 investierten Bund, Kantone und Gemeinden rund 35 Milliarden Franken in den Gewässerschutz. Waren 1964 in der Schweiz lediglich 67 Kläranlagen in Betrieb, so zählte man 1983 bereits 901 Anlagen. Der Anteil der schweizerischen Bevölkerung, der an Abwasserreinigungsanlagen angeschlossen ist, erhöhte sich zwischen 1970 und 1990 von etwa 30 auf 90 Prozent.
Was hatte zum politischen Umdenken geführt? Schon früh im 20. Jahrhundert erhielten die Fischer Unterstützung von Organisationen aus dem Natur- und Heimatschutz. Angeführt vom Schweizerischen Bund für Naturschutz (heute Pro Natura), kam eine patriotische Naturschutzbewegung in Gang. Die Schönheit der Schweiz zeige sich in der Natur, und diese solle entsprechend gegen negative Einflüsse von Modernisierungsprozessen geschützt werden. Es dauerte aber bis zu den Umweltbewegungen der 1970er-Jahre, bis ein wirkliches Umdenken begann. Die Politik rang sich endlich auch zu Verboten durch: 1976 wurde nach langwierigen Beratungen eine wenig spektakulär klingende «Verordnung über Abwassereinleitungen» beschlossen. Zwar waren die rechtlichen Grundlagen für den Erlass von Qualitätszielen für die Gewässer anfangs noch eher wackelig, trotzdem setzte man mit den Vorschriften über die Wasserqualität für die Fliessgewässer und Seen hohe Ziele, die inter­nationale Beachtung fanden. 1998 wurde diese Verordnung dann schliesslich in die Gewässerschutzverordnung überführt.

Mikroverunreinigungen als neue Herausforderung
Ende gut, alles gut? Mittlerweile werden in der Schweiz 97 Prozent aller Abwässer erfasst. Die Abwasserinfrastruktur setzt sich ­zusammen aus rund 800 Kläranlagen und 130 000 Kilometer Kanalisation. Alles in allem ergibt sich für die schweizerische Siedlungsentwässerung ein stolzer Infrastrukturwert von etwa 100 Milliarden Franken. Allerdings kommt die vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren errichtete Infrastruktur langsam in die Jahre, Inves­titionen sind unausweichlich. Ausruhen auf den Gewässerschutz-Lorbeeren ist aber auch aus weiteren Gründen nicht angesagt: Seit einigen Jahren steigt das Bewusstsein für sogenannte Mikroverunreinigungen. Dank feinerer Analytik weiss man heute, dass selbst gut funktionierende Kläranlagen gewisse Kleinstverschmutzungen nicht aus dem Abwasser entfernen können. So gelangen über die Kanalisation laufend hormonaktive Substanzen, Haushaltchemikalien, Kosmetika und Arzneimittel in die Gewässer, aber auch Stoffe aus gewerblichen und industriellen Prozessen. Es werden Nachrüstungen fällig. 
Urs Von Gunten von der Eawag sagt, die politische Herausforderung sei heute eine ganz andere: «Damals hat man alles mit eigenen Augen sehen können, die Verschmutzung war offensichtlich.» Bei den Mikroverschmutzungen mache sich höchstens wiederum die Fischerlobby bemerkbar, aber politisch werde wohl nie mehr ein ähnlicher Druck erzeugt werden können wie damals. «Es ist gar nicht mehr so einfach, zu zeigen, welchen Effekt wir mit entsprechenden Massnahmen erzielen, so dass es der Umwelt entscheidend besser geht.» Weil die Nachrüstung aller rund 800 Kläranlagen ein arg teures Unternehmen wäre, hat man sich im politischen Prozess in einem ersten Schritt darauf geeinigt, eine Halbierung der Rückstände anzupeilen. Das schafft man auch mit der Nachrüstung an den neuralgisch wichtigsten Stellen, das heisst bei bloss 120 Anlagen. Im Jahr 2040 soll der Anteil laut dem Bundesamt für Umwelt (Bafu) dann bei voraussichtlich 70 Prozent liegen. Die Kosten für den Bau der neuen Stufen zur Elimination von Mikroverunreinigungen werden zu 75 Prozent über einen neu geschaffenen, zweckgebundenen Abwasserfonds mitfinanziert, alimentiert von den Wasserverbraucherinnen und -verbrauchern.
Es warten aber noch weitere Herausforderungen: Kläranlagen sind Energiefresser. Schätzungen zufolge sind sie bei Einsatz herkömmlicher Technik für 3 Prozent des globalen Stromverbrauchs verantwortlich. Und auch den nicht unwesentlichen Treibhausgasausstoss würde man gern besser in den Griff bekommen, auch hier sind die Zahlen ähnlich: Die Treibhausgasemissionen der Schweizer Kläranlagen machen zwischen 1 und 3 Prozent der nationalen Emissionen aus, die Kalkulationen sind allerdings noch mit viel Unsicherheit behaftet. Auch hier sind verschiedene Ideen im Raum, wie man die Erfolgsgeschichte der Kläranlagen zu einem sauberen Ende erzählen kann. Das Problem? Es wird natürlich etwas kosten.

Artikel ausdrucken
Verwandte Artikel

95 400 Kilometer Wasserleitungen

Jährlich fallen etwa 60 Milliarden Kubikmeter Wasser auf die Schweiz in Form von Schnee oder Regen. 40 Prozent des Niederschlags ist verdunstetes Nordatlantikwasser, 25 Prozent kommen aus dem Mittelmeer, 20 Prozent von der Landoberfläche Mitteleuropas und 15 Prozent aus der Nord- und Ostsee. Schätzungsweise 13,1 Milliarden Kubikmeter stammen aus anderen Ländern.

29.09.2025 von Simon Rindlisbacher

Es muss nicht immer Trinkwasser sein

Wir duschen, spülen Toiletten, waschen Kleider, bewässern Gärten, Parks und Landwirtschaft mit Trinkwasser – obwohl dafür auch Wasser von niedrigerer Qualität genügen würde. Beispiele aus Hongkong und San Francisco zeigen, wie alternative Wassersysteme aussehen können. Und wie steht es um die Verwendung von «Brauchwasser» in der Schweiz?

29.09.2025 von Roland Fischer

Wasser als Ware, Wasser als Gemeingut

Es ist ein eher wenig beachteter Brennpunkt aktueller kapitalistischer Machtspiele: Wasser als Ressource. Der Eindruck nämlich, dass die grossen, neoliberalen Privatisierungswellen eher am Abflachen sind: Er täuscht.

29.09.2025 von Roland Fischer