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11.06.2025 von Simon Rindlisbacher

Viel mehr als Staatskunde

Jugendliche in der Schweiz wissen vergleichsweise wenig über Politik. Mit politischer Bildung in und ausserhalb der Schule lässt sich das ändern. Der Besuch einer sechsten Klasse im Basler Rathaus zeigt, wie Politik erlebbar wird. 

Artikel in Thema Demokratie stärken
Illustration: Claudine Etter

Ein Donnerstagmorgen im Mai. Im Innenhof des Basler Rat­hauses steht die Klasse 6e aus dem Schulhaus Erlenmatt zusammen mit ihrem Lehrer Chris Pfeifer. Sie lauschen aufmerksam der Begrüssung von Deborah Berger vom Kinderbüro Basel. Dieses bietet im Rahmen des Projekts Polit-Baukasten Führungen durch das Rathaus an, die jeweils von Mitgliedern aus dem Grossen Rat geleitet werden. Heute ist Oliver Thommen, Geschäftsführer der Grünen Basel, an der Reihe.

«Null Bock auf Politik» hätten die Jugendlichen in der Schweiz. Das meldete der «Beobachter» vor knapp 15 Jahren auf Basis einer internationalen Vergleichsstudie, in der die Schweiz alles andere als überzeugend abschnitt. Der «Beobachter» fasste zusammen: Jugendliche in der Schweiz wissen vergleichsweise wenig über Politik. Zudem ist die Bereitschaft, sich beispielsweise bei Wahlen oder in einem Amt zu engagieren, unterdurchschnittlich. Die Studie wirkt bis heute nach und wird in Zeiten aufkeimender autoritärer Tendenzen weiterhin zitiert – in Medienberichten, Positionspapieren und an Kongressen. Auch hat sich die Lage seither nur bedingt verbessert. Das zeigen die Ergebnisse des «DSJ Jugend- und Politikmonitors 2023»: Viele Jugendliche haben keine Meinung zur Demokratie, und es gibt durchaus relevante Minderheiten, die ihr kritisch gegenüberstehen. Politische Partizipation und politisches Engagement kann sich nur eine Minderheit vorstellen.

Oliver Thommen führt die Klasse zunächst nicht ins Rathaus, sondern auf den Marktplatz direkt davor. «Gebt acht, wenn ihr über die Strasse geht!» Mitten in den Marktständen gibt es einen Exkurs in die Geschichte. Der Grossrat startet 50 000 Jahre in der Vergangenheit («Damals war hier nichts») und landet via Römerzeit, als Augusta Raurica wichtiger war als Basel, in der Zeit, als die Stadt an Bedeutung gewann und das Rathaus schliesslich gebaut und laufend erweitert wurde. Das sieht man diesem von aussen an. Eine der Erweiterungen war der Rat­hausturm um 1900: «Der Bau hat im Grossen Rat eine Debatte ausgelöst. Der Turm hat nämlich keinen grossen Nutzen. ­Warum also viel Geld dafür ausgeben? Trotzdem hat die Mehrheit des Rates dafür gestimmt.» Dagegen sei das Referendum ­ergriffen worden, aber auch die Bevölkerung habe schliesslich für den Turm gestimmt. 

Kinder und Jugendliche zur Mitgestaltung befähigen
Um das politische Interesse von Jugendlichen und ihre Kompetenzen zur demokratischen Mitwirkung zu stärken, braucht es dringend mehr politische Bildung. Das fordern drei aktuelle Positionspapiere, wie etwa die «Erklärung von Biel». Das bildungspolitische Positionspapier entstand 2021 aus einer Tagung mit 100 Fachleuten. Auch die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ) veröffentlichte 2023 ein Positionspapier, ebenso der LCH, der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer. Die Expertinnen und Experten sind sich einig: Politische Bildung muss in der Schule verankert werden, Lehrpersonen brauchen die entsprechende Ausbildung, und ausserschulische Angebote müssen als wichtige Ergänzung gestärkt werden. Einigkeit herrscht zudem darüber, dass politische Bildung mehr sein muss als klassische Staatskunde: Sie soll Kinder und Jugendliche dazu befähigen und motivieren, Politik und Gesellschaft mitzugestalten. 
Diese Definition teilt auch Carol Schafroth. Sie ist Geschäftsführerin vom Campus für Demokratie. Die Organisation fördert politische Bildung durch Netzwerkarbeit. «Das Ziel politischer Bildung muss sein, grundlegende Kompetenzen für das gesellschaftliche Miteinander weiterzugeben», sagt Schafroth. Sie verweist auf ein Modell, das im Auftrag des Europarats entwickelt wurde, den «Referenzrahmen: Kompetenzen für eine demokratische Kultur». Dieser listet total zwanzig Kompetenzen auf. Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen findet die Geschäftsführerin von Campus für Demokratie vier der Kompetenzen besonders wichtig: aktives Zuhören, Empathie, Kompromissbereitschaft und die Fähigkeit, andere Meinungen auszuhalten.

«Im Moment hängt viel von den einzelnen Lehrpersonen ab. Sie müssen am Thema interessiert sein und die nötige Motivation mitbringen.»


Unterdessen ist die Klasse 6a im Rathaus angelangt. Die Schülerinnen und Schüler sitzen im Vorzimmer des Grossratssaals auf Holzbänken der Wand entlang. Hier erklärt Oliver Thommen, dass die Geschäfte, über die der Grosse Rat abstimmt, von Kommissionen vorberaten werden. «Das geht schneller, als wenn alle Ratsmitglieder mitreden», hält er fest. Die Kommissionen treffen sich für ihre Besprechungen im Vorzimmer, das dafür mit einem grossen Konferenztisch ausgestattet ist. Einer der Stühle, die um den Tisch herumstehen, ist grösser als der Rest. «Sitzt da immer der Chef?», fragt eine Schülerin. «Nein, früher war das vielleicht so. Heute sind die Hierarchien nicht mehr so wichtig.»

Politik erfahrbar machen
Der Weg zu einer politisch interessierten und engagierten Jugend scheint klar. Wie steht es um die Umsetzung? «In den letzten Jahren hat sich einiges verbessert», sagt Carol Schafroth. Aber: «Gut ist die Situation noch immer nicht.» Die Herausforderung sei, dass man viele der notwendigen Kompetenzen nicht frontal unterrichten könne. Politische Partizipation beispielsweise müsse erlebbar gemacht werden, etwa indem man einen Klassenrat einrichte und die Klasse über verschiedene Themen mitentscheiden lasse. Mit dem Lehrplan 21 ist gemäss Carol Schafroth in der Deutschschweiz die Grundlage für diese Art politischer Bildung zwar gelegt. Aber an den pädagogischen Hochschulen bekomme erst eine Minderheit der angehenden Lehrpersonen die nötigen Werkzeuge vermittelt – das müsse sich ändern. Zudem sei ein partizipativer Unterricht mit zusätzlichem Aufwand verbunden. «Im Moment hängt deshalb viel von den einzelnen Lehrpersonen ab. Sie müssen am Thema interessiert sein und die nötige Motivation mitbringen», erklärt Schafroth. Sei beides nicht der Fall, würden sie einfach Staatskunde im klassischen Sinn unterrichten. 

Erste demokratische Erfahrungen im Klassenrat
Ähnliches berichtet Chris Pfeifer auf der Rathausführung mit seiner sechsten Klasse. Er bestätigt, dass es mit dem Thema an den pädagogischen Hochschulen noch hapere, beobachtet aber, dass zumindest in Basel Klassenräte und Schülerparlamente an vielen Schulen zum Standard werden. «Eine Schwierigkeit ist, dass man den Klassenrat auf Kosten anderer Fächer im Stundenplan unterbringen muss», erklärt Pfeifer. Das halte wohl die eine oder andere Lehrperson noch davon ab, überhaupt einen einzuführen. Seine Erfahrungen mit dem Format seien positiv: «Wir nutzen die Zeit, um auf die Woche zurückzublicken, besprechen Anliegen der Schülerinnen und Schüler und verteilen die Ämtli neu.» Auch würden sie im Klassenrat besprechen, was die beiden Mitglieder des Schülerparlaments dort einbringen sollen. 

Nach dem Vorzimmer geht es für die Klasse 6e weiter in den Grossratssaal. Dieser ist reich verziert, überall grosse Wandgemälde. Sie erinnern unter anderem an wichtige Tugenden, die die Mitglieder des Rats auszeichnen sollen, wie Oliver Thommen später ausführt: Geduld, Mut, Gesetzestreue und Mässigung («Da ist zum Beispiel Donald Trump kein Vorbild»). Die Schülerinnen und Schüler setzen sich in die Bankreihen. Einige versuchen zu erraten, wofür die mit «F», «E» und «Z» beschrifteten Knöpfe sind, die es an jedem Sitzplatz gibt. Von irgendwoher heisst es: «Die Sitze sind ja richtig bequem.» Oliver Thommen erläutert die Gewaltenteilung und dass der Grosse Rat über Gesetze entscheide. Anhand von Beispielen zeigt er auf, wie das funktioniert, und löst dann das Rätsel um die Knöpfe auf: Vor den Abstimmungen werde im Rat nach klaren Regeln diskutiert. Wer etwas sagen wolle, müsse sich mit «F», «E» oder «Z» melden. «F steht für Fraktionsvotum, also das Votum einer Partei, E für Einzelvotum und Z für Zwischenfrage», verrät Thommen. Die Zwischenfragen würden gerne genutzt, um die Sprechenden etwas aus der Reserve zu locken.

Mitbestimmen, wie der Spielplatz aussieht
Politische Bildung ist aber nicht nur Sache der Schulen. So gibt es in der Schweiz zahlreiche ausserschulische Akteure, wie Carol Schafroth vom Campus für Demokratie erklärt. Diese unterstützen mit ihren Angeboten die Schulen oder bieten eigenständige Aktivitäten an. Dazu gehört auch der Polit-Baukasten des Kinderbüros Basel, der vom Kanton finanziert wird und die Führung mit Oliver Thommen organisiert hat. Angebote wie die Rathausführung richten sich direkt an Schulen und können von Lehrpersonen gebucht werden. Genauso wie «Politkids» oder «Politteens», die Begegnungen zwischen Schülerinnen und Schülern und Mitgliedern des Jungen Rats in Basel oder Mitarbeitenden der Verwaltung organisieren und begleiten. Zu den eigenständigen Aktivitäten im Polit-Baukasten gehört beispielsweise das Projekt «KinderMitWirkung». Dieses ermöglicht Basler Kindern, Ideen für eine kinderfreundliche Stadt zu entwickeln. 

Bei Projekten wie dem Polit-Baukasten lernen Kinder, wie man sich mitteilt und mit anderen Lösungen aushandelt.


Schliesslich bietet der Baukasten auch Beratung und Schulungen für Schulen und Lehrpersonen an, etwa zum Aufbau eines Schülerparlaments. Das generelle Ziel dieser Angebote sei, Kinder zu befähigen, Demokratie zu leben, sagt Robin Schobel. Er ist stellvertretender Geschäftsführer beim Kinderbüro Basel und verantwortlich für den Polit-Baukasten. «Das gelingt aus unserer Erfahrung besonders gut, wenn sie an Projekten beteiligt werden.» Dabei lernen sie, wie man sich mitteilt und mit anderen Lösungen aushandelt, auch mit Erwachsenen. Wichtig sei, betont Schobel, dass die Projekte ­direkt in der Lebenswelt der Kinder angesiedelt seien: «Zum Beispiel, dass sie mitbestimmen können, wie der Spielplatz in ihrem Quartier aussehen soll. Besuchen sie ihn später, können sie die Wirkung ihrer Beteiligung konkret erleben.» 

Politik mit Personen verbinden
Auch Begegnungen zwischen Kindern und Jugendlichen und der Politik beziehungsweise den Menschen, die diese verkörpern, sind gemäss Robin Schobel wichtig. Solche ermöglicht der Polit-Baukasten unter anderem mit den Rathausführungen. «Die Kinder verbinden so Politik und das politische System mit einer Person, der sie begegnet sind», erklärt Schobel. Politik sei dann nicht mehr etwas Abstraktes, sondern etwas Konkretes und Erreichbares.

Bevor es zum krönenden Abschluss zuoberst auf den Rathausturm geht, macht die Klasse 6e noch einen Abstecher in den Regierungsratssaal. Die Schülerinnen und Schüler werden langsam etwas unruhig und albern herum. «Wir sind jetzt im ältesten Teil des Gebäudes», berichtet Oliver Thommen. Der Raum wirkt prunkvoll, wieder mit viel Holz und bunten Glasfenstern. Hier erklärt der Geschäftsführer der Grünen Basel die Aufgaben der Regierung. Was die Schülerinnen und Schüler besonders beeindruckt: dass der grosse, runde Konferenztisch 80 000 Franken gekostet hat.

Ohne politische Bildung keine Demokratie
Heute werden grosse Hoffnungen in die politische Bildung gesetzt. So hält etwa die «Erklärung von Biel» fest, dass die «einzigartige» Schweizer Demokratie nur funktioniere, wenn junge Menschen durch politische Bildung das nötige Wissen und die nötigen Kompetenzen erwerben. Demokratie falle nicht vom Himmel. Auch die EKKJ ist überzeugt, dass das nachhaltige Funktionieren der schweizerischen Demokratie auf der politischen Bildung für Kinder und Jugendliche beruhe. Und für den LCH hängt schlicht die Zukunft der Demokratie von der politischen Bildung ab. Gut also, dass sich etwas tut.
Bleibt abzuwarten, wann diese Bemühungen Wirkung zeigen und sich auch in den Umfragen wie dem «DSJ Jugend- und Politikmonitor» niederschlagen. Die Arbeit des Polit-Baukastens jedenfalls scheint beim Zielpublikum schon mal gut anzukommen. Das zeigen die Umfragen, die das Kinderbüro Basel im Rahmen seiner Qualitätssicherung durchführt. Und dass die Angebote nicht ohne Wirkung bleiben, macht Robin Schobel an einem konkreten Beispiel fest: Jo Vergeat, die junge Basler Grossrätin der Grünen, habe früher bei «KinderMitWirkung» mitgemacht und sich dort für eine griffige Klimapolitik starkgemacht. «Diese Erfahrung hat sicher zu ihrer Politisierung beigetragen.»

Nach dem Ausflug auf den Rathausturm versammelt sich die Schulklasse von Chris Pfeifer nochmals im Grossratssaal. Nun übernimmt wieder Deborah Berger vom Kinderbüro Basel, die die Führung im Hintergrund begleitet hat: «Habt ihr noch Fragen?» Stille. Die Luft ist raus. Die Schülerinnen und Schüler füllen noch rasch den Feedback-Bogen aus. Sie freuen sich, dass sie den Kugelschreiber behalten dürfen, den sie zum Ausfüllen erhalten haben, und posieren für ein Erinnerungsfoto. Dann gehen sie wieder hinaus in die kühle Morgenluft. «Herr Pfeifer, dürfen wir über den Markt gehen und schauen, ob wir an den Ständen etwas gratis probieren dürfen?»


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