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11.06.2025 von Roland Fischer

Was auch immer Chaos auslöst

Populisten und Autokraten brauchen Propaganda, um Macht zu erlangen und auszuüben. Ein Blick nach Russland zeigt, dass es heute vor allem um eins geht: völlige Desorientierung zu schaffen.

Artikel in Thema Demokratie stärken
Illustration: Claudine Etter

«Dieser Moment, wenn die fiktionalen Elemente in der Welt um uns herum immer mehr werden, bis zu dem Punkt, an dem es fast unmöglich wird, ‹Echtes› von ‹Falschem› zu unterscheiden – die Begriffe haben jede Bedeutung verloren.» Beschreibt da jemand treffend Fake News, Desinformation, KI-Manipulationen überall? Nein, das Zitat stammt vom Science-Fiction-Autor J. G. Ballard und ist schon über fünfzig Jahre alt, er schrieb es 1966. Die Diagnose hat offenbar eine Vorgeschichte. Ballard hat etwas vorweggenommen, was erst Ende der 1970er-Jahre so richtig ins allgemeine Bewusstsein dringen sollte: das seltsame Nichts-ist-mehr-sicher-Gefühl namens Postmoderne.

Postmoderne im Westen – und Osten
Ein, zwei Jahrzehnte lang kam keine kulturtheoretische Debatte um das Zauberwort herum, das postulierte, wir seien in einem neuen Zeitalter angekommen, noch immer Moderne, aber nicht mehr dieselbe. Diese Nach-Moderne, so bringt man es gemeinhin auf einen Nenner, muss ohne ein grosses gemeinsames Narrativ auskommen; sie ist vielgestaltig, fragmentiert, uneindeutig. Dann wurde es stiller um die Postmoderne, zumindest im Westen. Was wir nicht mitbekommen haben: Währenddessen «betrinkt sich Russland geradezu an all dem Relativismus». So drückt es Roman Horbyk aus. Der ukrainische Medienwissenschaftler und Spezialist insbesondere für Propaganda im Osten lehrt und forscht derzeit an der Universität Zürich. Erst in den 1990ern, nach dem Kollaps der Sowjetunion, wurden all diese Theorien zugänglich, es gab eine Menge aufzuholen. «Russland saugte diese Ideen aus dem Westen auf.» Horbyk nennt, was da entstand, ein wenig augenzwinkernd McLeninismus, die Verheiratung der Ideen von Lenin und Marshall McLuhan, seines Zeichens Hohepriester des postmodernen, alle Gewissheit auflösenden und – deshalb eben auch: desorientierenden – Denkens.

Bis alle die Orientierung verlieren
Einer passte dabei besonders gut auf: Vladislav Surkov. Er ist eine der zentralen Figuren im Film «Hypernormalisation» des Dokfilmers und BBC-Archivars Adam Curtis, in dem es um alles Mög­liche geht: Syrien, Russland, künstliche Intelligenz, politische und weltanschauliche Turbulenzen allenthalben. Als enger Berater Putins und ehemaliger Avantgarde-Theatermacher legte es Surkow, so Curtis, darauf an, «Politik in ein seltsames Theater zu verwandeln, in dem niemand mehr wusste, was wahr und was unwahr ist». Die Leute um Surkow nannten sich «political technologists», meist ehemalige Dissidenten, die plötzlich an Putins Hof Anschluss fanden. Die eigentliche Machtstrategie des Kremls seither: die Menschen so sehr durcheinanderbringen, dass alle, auch die Opposition, die Orientierung verlieren. Oder wie es Surkow selbst mal beschrieben hat: Konflikte zu nutzen, um «die Wahrnehmung in einem konstant schwankenden Zustand zu halten, mit dem Ziel der Steuerung und Kontrolle».
Der Medienwissenschaftler Horbyk kennt die schillernde Figur Surkow und seine besondere Biografie gut: «Man sollte ihn vielleicht nicht Artist, sondern Con-artist nennen», einen perfekten Illusionär und Hochstapler. Auf jeden Fall habe er sich dank seinem Kulturwissen sehr gut ausgekannt mit all den Postmoderne-Theorien, und er habe realisiert, dass man den Westen so gewissermassen mit den eigenen Waffen schlagen kann: Dass alle Realität konstruiert ist, dass letztlich jeder seine eigene Wahrheit besitzt. Dieser postmoderne Relativismus: Den hat der Westen selber geprägt.

Seit 2008 arbeitet Russia Today daran, Zweifel am Westen, seinen Medien und seinen Werten zu säen.


Werteverlust, Wirtschaftskrise und technologischer Wandel
Surkow war natürlich nicht allein. Das alte Russland verschwand nicht einfach in den 1990ern, sagt Horbyk: «Der KGB war auf der Höhe seiner Macht, eine Konzentration von Personal und Kompetenz mit viel Wissen, wie man Information steuern kann.» Dass daraus eine ganz neue Art von Propaganda resultieren sollte, sei allerdings im Bewusstsein des Westens noch nicht wirklich angekommen. «Wir brauchen neue Standardwerke zur Propaganda», sagt Horbyk.
Tatsächlich arbeitet der Medienwissenschaftler gerade an einem solchen, und so ist es ihm zunächst wichtig, nicht auf die Brüche, sondern auf die Kontinuitäten in der Pro­paganda-Geschichte hinzuweisen: Drei Faktoren seien ausschlaggebend, damit die Beeinflussungsmaschinerie so richtig ins Laufen komme. Zunächst einmal der Verlust an verlässlichen gesellschaftlichen Werten. Das habe sich in Russland 1991 ereignet, eine ganze Weltanschauung sei kollidiert, die Menschen ohne Orientierung – «und das sehen wir auch im Westen dieser Tage, diese Aushöhlung alter Werte». Dazu komme als wichtige Variable die Wirtschaft, je mehr diese stottert, desto besser für Propagandisten. Und als dritte, sehr wesentliche Zutat bringt Horbyk den technologischen Wandel ins Spiel. Wer sich die entsprechenden Medienkompetenzen rasch aneigne, habe grosse Möglichkeiten, die Menschen zu beeinflussen. Das hätten Lenin und die Bolschewiken gezeigt, aber auch Hitler und Goebbels.

Nicht «Wahrheit», sondern Chaos verbreiten
Sehr verkürzt könnte man sagen, die Geschichte der Propaganda teilt sich in drei Zeitalter auf: Zunächst ging es, ganz im ursprünglichen Wortsinn (lat. propagare, «verbreiten, ausdehnen»), schlicht darum, die – katholische – Wahrheit in die Welt zu bringen. In dieser Frühzeit, ab dem 17. Jahrhundert, musste man die Medien zur Verbreitung der Wahrheit überhaupt erst erschaffen. Im heutigen Sinn von Propaganda sprechen würde man wohl erst in der zweiten Phase, die man die Zeit der Manipulation nennen könnte, geprägt von Massenmedien und dem Denken der Werbung und der Psychologie. Es war auch die Zeit, in der die Propaganda verwissenschaftlicht wurde.
Und nun eben: die Ära der postmodernen Propaganda, was sich ganz gut anhand der Geschichte des Fernsehsenders RT (vormals Russia Today) illustrieren lässt. Was zunächst als ein ehrgeiziges Projekt der öffentlichen Diplomatie begann, um der Welt ein positives Bild von Russland zu vermitteln, verschob sich während des Konflikts zwischen Russland und Georgien 2008. Seitdem arbeitet RT daran, Zweifel am Westen, an seinen Medien und seinen Werten zu säen, ganz im Sinne des aktuellen Slogans «Question More» (am ehesten: Stell mehr infrage). Die Aussage eines Mitarbeiters spricht Bände: «Ich habe meinen Redaktor gefragt, was die Linie von RT in dieser Sache [Brexit] ist, und er sagte: Was auch immer Chaos auslöst, ist die Linie von RT.»

Resilienz und Vertrauen als Gegenstrategie
Diese neue Propaganda will zur Machterhaltung nicht mehr Erzählungen prägen, sondern sie ist ganz explizit ein Instrument der Verunsicherung. Was auch erklärt, warum sie sogar funktioniert, wenn die verbreiteten Wahrheiten leicht zu widerlegen sind und komplett fadenscheinig daherkommen. In der Fachliteratur findet sich dafür auch der Begriff «unconvincing propaganda». Genau da müsste auch die Gegenwehr ansetzen: Wir brauchen nicht noch mehr Fact-Checking, wir brauchen Resilienz. Wir brauchen Vertrauen in die Grundsätze, auf die da unablässig geschossen wird. Denn womöglich hat diese Art Propaganda schon gewonnen, wenn sie uns ein wenig in Panik versetzt, wenn sie nur in dem Punkt überzeugend ist, dass sie Wirkung entfalten, verunsichern, spalten kann. Wir haben es da im Grunde mit ziemlich durchsichtigen Tricks zu tun, die unsere wunden Punkte anvisieren. Donald Trump beispielsweise hat man schon als «chaos magician» bezeichnet, als Magier des Chaos. Die beste Gegenstrategie wäre es dann, das Chaos ein wenig auszuhalten, bis die Tricks ihre Magie verloren haben. Und zu merken, dass in all dem Durcheinander ja vieles noch ganz heil geblieben ist: Wir haben eine Justiz, die unabhängig arbeitet, es gibt Länder, die den Populismus ganz gut im Schach halten, die Demokratie ist nicht zwingend ein Auslaufmodell, nur weil uns das irgendwer einreden will. Und: Haben wir die Postmoderne nicht längst selbst entzaubert?
Der Chef-Illusionist Surkow indessen hat in den letzten Jahrzehnten eine wilde Karriere mit Hochs und Tiefs hingelegt, er scheint noch immer irgendwo im Sattel zu sitzen, hat die konkrete Arbeit aber wohl an seine Schüler weitergegeben. Horbyk erwähnt die «Fake-NGO» und Online-Propagandaschleuder ANO Dialog, ihr offizielles Ziel: den Dialog zwischen der Gesellschaft und der Regierung fördern. Das könnte tatsächlich von Surkow sein. Mit einem nicht ganz unwesentlichen Unterschied, wie Horbyk betont: Heute ist Propaganda ein Medienbusiness, mit dem sich richtig gut Geld verdienen lässt. Bezahlt natürlich: vom Kreml.

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