Jährlich fallen etwa 60 Milliarden Kubikmeter Wasser auf die Schweiz in Form von Schnee oder Regen. 40 Prozent des Niederschlags ist verdunstetes Nordatlantikwasser, 25 Prozent kommen aus dem Mittelmeer, 20 Prozent von der Landoberfläche Mitteleuropas und 15 Prozent aus der Nord- und Ostsee. Schätzungsweise 13,1 Milliarden Kubikmeter stammen aus anderen Ländern.
Es ist der 27. Juni dieses Jahres, und der Alpenrhein führt so wenig Wasser wie nie zuvor an einem 27. Juni in den letzten 35 Jahren. 216 Kubikmeter pro Sekunde sind es. Sogar im sehr trockenen 2022 konnte das Bundesamt für Umwelt (Bafu) eine leicht höhere Abflussmenge messen.
Im liechtensteinischen Schaan, das am Rhein liegt, treffen sich an jenem Tag Fachleute aus der Wissenschaft und von verschiedenen NGOs zu einer Tagung der Internationalen Alpenschutzkommission Cipra. Die Dachorganisation wacht darüber, dass die seit 1991 geltende Alpenkonvention, ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Alpenstaaten und der EU, auch wirklich eingehalten wird.
Wasserknappheit durch Gletscherschwund
Die Tagung ist dem Wasser gewidmet, genauer, dem Süsswasser aus den Bergen, das künftig saisonal knapp wird. Johannes Cullmann, Wasserexperte bei der Uno und der deutschen Bundesanstalt für Gewässerkunde, macht die Anwesenden mit dem Begriff «Peak Water» vertraut: Bergbäche führen durch die Gletscherschmelze mehr Wasser, bis es kippt und zunehmend weniger Wasser bergabwärts fliesst, dauerhaft. Grund dafür ist der Gletscherschwund, den der vom Menschen verursachte Klimawandel beschleunigt. In den wärmer werdenden Wintern fällt der Niederschlag vermehrt als Regen und nicht mehr als Schnee, der die Gletscher isolierend schützt. Forschende haben ausgerechnet, dass in den Alpen «Peak Water» bei den meisten Gletschern bereits erreicht ist oder es bald so weit sein wird. Wenn jetzt im heissen, trockenen Hochsommer noch viel Wasser den Berg hinunterfliesst, ist das also kein gutes Zeichen, denn es war soeben noch vermeintlich «ewiges» Eis. Einmal geschmolzen, ist es weg, buchstäblich den Bach runter.
Gletscher und Schnee sind Wasserspeicher. Verschwinden sie, liegen im Sommer Suonen und andere Bewässerungssysteme in der Landwirtschaft trocken. Gletscher speisen auch die Seen, aus denen wir – zum Beispiel in Zürich – Trinkwasser entnehmen. Ausserdem ist der Gütertransport auf dem Rhein vom Wasser aus den Alpen abhängig. Und dann ist da noch die Wasserkraft. Schweizer Energieunternehmen behalten in ihren Stauseen Sommerwasser für die Stromproduktion im Winter zurück. Mit dem forcierten Ausbau der Speicher- und Pumpspeicherkapazitäten werden das künftig noch grössere Mengen sein.
Wachsendes Konfliktpotenzial
In Zukunft wird das Wasser unbeständiger fliessen, manchmal in kurzer Zeit sehr viel, dann für lange Zeit nur ganz wenig. Dieses Wasser gilt es auch bei zunehmenden Knappheiten mit den zig Millionen Menschen zu teilen, die flussabwärts davon abhängig sind, in Frankreich, Italien, Deutschland, den Niederlanden, Österreich und bis nach Osteuropa. Die Unesco schreibt in einem aktuellen Bericht zur weltweiten Bedeutung des Wassers von alpinen Gletschern, sie seien entscheidend «für die Deckung grundlegender menschlicher Bedürfnisse wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung und unerlässlich für die Gewährleistung der Nahrungsmittel- und Energiesicherheit für Milliarden von Menschen, die in und um Bergregionen und flussabwärts gelegenen Gebieten leben». Dass Wasserknappheit zu Nutzungskonflikten führen kann, im Inland, aber auch mit den Nachbarländern, erkannte und formulierte der Bundesrat 2021 in einem Bericht zur Wasserversorgungssicherheit. Da steht: «Vor allem im Sommer und Herbst dürften die ins Ausland abfliessenden Wassermengen zurückgehen. In diesen Monaten ist bei den südlichen Unterliegern Frankreich und Italien die Wassernachfrage für die Bewässerung am grössten; gleichzeitig benötigt die Schweiz Wasser für ihre Speicherkraftwerke. Verbunden mit den Auswirkungen des Klimawandels, bedeutet dies ein wachsendes Konfliktpotenzial.» Weiter ging er nicht darauf ein. Aber manchmal geht es schnell.
Schon im Sommer darauf wurde die Prognose Realität. Bilder von ausgetrockneten Seen und Flussbetten schockierten das Land, der Bund schrieb danach rückblickend von aus dem Lot geratenen Wassersystemen und grosser Wasserknappheit, Fischsterben, eingeschränkter Schifffahrt und Wasserkraftproduktion. Zu Konflikten mit flussabwärts liegenden Nachbarländern sagte er nichts. Dafür konnte man in den Zeitungen lesen, dass die Schweiz nicht bereit war, der nach Wasser dürstenden Lombardei entgegenzukommen. Von dort waren Hilferufe an die Schweiz gelangt, man möge doch bitte durch Ablassen von Wasser aus Bergstauseen den Pegel des Lago Maggiore erhöhen, damit der Abfluss des Ticino in Italien mehr Wasser führen könnte – denn das wäre nötig gewesen, um Ernten zu retten. Aber hierzulande gab es warnende Stimmen aus Wissenschaft und Politik, dass die Pegel der Tessiner Stauseen ebenfalls rekordtief seien. Man sorgte sich auch um die Folgen für die Stromproduktion im Winter.
Ökologie muss an erster Stelle stehen
Kaspar Schuler, ehemaliger Geschäftsführer von Greenpeace Schweiz, leitet heute die Cipra und ist in dieser Funktion Gastgeber der Tagung in Schaan. Er warnte nach dem trockenen Sommer 2022: «In Zukunft wird es einen Kampf ums Wasser geben.» In Schaan ist eine Podiumsdiskussion diesem Thema gewidmet. Die Vertreterin des italienischen Naturschutzparks Lombardo della Valle del Ticino bestätigt: «2022 war ein kritisches Jahr, es gab sehr wenig Wasser. Wegen der Klimakrise wird es in Zukunft öfter zu solchen Situationen kommen. Wir müssen uns vorbereiten, miteinander und respektvoll. Wenn nur die eigenen Interessen zählen, gibt es Konflikte.» Ausserdem müsse die Ökologie priorisiert werden: «Mit ihr müssen wir starten, sonst hat alles keinen Sinn.» Denn für den Erhalt der Ökosysteme sind lebendig mäandrierende Oberflächengewässer und gut genährte Grundwasserströme essenziell. Fehlen sie, fehlt es an der Lebensgrundlage für alle.
Ohne internationale Zusammenarbeit geht es nicht
Ist das Miteinander denn nicht längst in Abkommen geregelt? Man würde es meinen. Der Bund führt eine Liste mit internationalen Abkommen und Kommissionen, und auch im wichtigen Grundlagenbericht zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die Schweizer Gewässer sind Gremien für die Zusammenarbeit aufgeführt. Aber die reichen aus Kaspar Schulers Sicht nicht mehr aus, es brauche jetzt schnell mehr internationalen Austausch, mehr Kooperation.
An der Alpenkonferenz von 2020 haben die Umweltministerinnen und -minister der Vertragsparteien der Alpenkonvention (Italien, Deutschland, Frankreich, Monaco, Österreich, Slowenien, Liechtenstein, die Schweiz sowie die EU) die «Erklärung zur nachhaltigen Wasserbewirtschaftung» verabschiedet. Vertreterin der Schweiz war damals Simonetta Sommaruga. Mit der Deklaration anerkennen die Alpenländer einschliesslich der Schweiz, dass der Alpenraum bedingt durch den Klimawandel als «ein zunehmend dürregefährdetes Gebiet» betrachtet werden muss und es Anpassungen braucht. Sie bekennen sich zum Schutz der letzten unberührten Flussläufe, zur Wiederherstellung und Revitalisierung der Fliessgewässer, zu eingeschränkter Kleinwasserkraftnutzung, zu mehr Daten durch Monitoring – und sie sagen klar: Es brauche jetzt «Strategien und Pläne zur Lösung von Wassernutzungskonflikten». Also ein intensives transnationales Miteinander. Die so reizvolle wie dringliche Aufgabe lautet: Solidarität, Vertrauen und Effort über (ökonomische) Partikularinteressen, Grenzen und Institutionen hinweg, zusammen mit der Lokalbevölkerung. Auf Nachfrage sagt das Bafu, die Deklaration habe «die Schweiz darin bestärkt, ihr bisheriges Engagement weiter fortzusetzen», und erwähnt den engen Austausch mit Frankreich und Italien und das Engagement in grenzüberschreitenden Gremien. •